Briefe von Ruth – Wiener Kammeroper, 26.02.2025
Foto: Herwig Prammer
Nachdem der letzte Akkord verklungen war gab es erstmals eine – im wahrsten Sinne des Wortes – Totenstille im Auditorium und erst langsam setzte zögerlicher Applaus ein. Dieses Szenario war aber weder der Qualität des Werkes noch den Leistungen aller Beteiligten geschuldet, sondern dem Inhalt dieses „Kammermusicals“, der mir eine sehr unruhige Nacht bescherte – zu sehr nahm mich das Schicksal der Ruth Maier, das in kurzen, aufeinanderfolgenden Szenen, auf die Bühne gebracht wurde, mit. Meine Reaktion erinnerte mich an die, als ich vor vielen Jahren „Sophie’s Choice“ in der Volksoper gesehen hatte.
Ich gehe davon aus, dass den meisten Leserinnen und Leser die Hintergründe dieses Werkes und der Inhalt unbekannt sind – es wurde erst 2023 uraufgeführt – und daher zuerst ein paar Worte zur Geschichte.
Ruth Maier wurde 1920 in Wien in eine säkulare, bürgerliche, jüdische Familie geboren. Der Vater starb und sie wurde – gemeinsam mit ihrer Schwester – von der dann alleinstehenden Mutter aufgezogen. In ihrem vierzehnten Lebensjahr begann sie dann ein Tagebuch zu verfassen – eine Tätigkeit, die sie bis zu ihrem Tod ausübte. Sie interessierte sich für Malerei und Literatur und wollte eine Künstlerin werden. Rund um die Reichskristallnacht wurde ihre Schwester nach England geschickt, sie selbst emigrierte im Frühjahr 1939 nach Norwegen, zur Familie eines ehemaligen Geschäftspartners ihres Vaters.
Nach der Okkupation Norwegens durch die deutsche Wehrmacht im April 1940 wurde die latente Judenfeindlichkeit zu einer großen psychischen Belastung für die junge Frau, die nahm dann an Arbeitsdienstlagern teil, wo sie die gleichaltrige Gunvor Hofmo kennen- und lieben lernte. Im Februar 1941 erlitte Maier dann einen Nervenzusammenbruch und begab sich in psychiatrische Behandlung.
1942 lernte sie den Bildhauer Gustav Vigeland kennen und stand für seine Statue „Überrascht“ Modell – diese ist übrigens heute in Oslo im „Vigeland-Park“ ausgestellt. Im November 1942 wurde Maier dann von den Nazis festgenommen und über Stettin nach Auschwitz deportiert und am 1.Dezember 1942 ermordet und verbrannt.
Foto: Herwig Prammer
Soweit die Lebensgeschichte – wie ging es aber danach weiter? Gunvor Hofmo war im Besitz der Tagebücher von Maier und etablierte sich als eine der bedeutendsten Lyrikerinnen Norwegens. Nach ihrem Tod im Jahre 1997 entdeckte ihr Nachlassverwalter die Tagebücher und publizierte diese dann im Jahr 2007 diese – gemeinsam mit Briefen, die Maier an ihre Familie geschrieben hatte.
Auf dieser Basis entstand dann eine norwegische Theaterproduktion, auf die Gisle Kverndokk und Aksel-Otto Bull, die später das Libretto schrieben, aufmerksam wurden. Kverndokk, der diese Stück (irgendwie weigere ich mich, das als „Musical“ zu benennen) auch komponierte, begann ab 2008 sich mit dem Thema zu befassen und – um eine längere Geschichte kurz zu fassen – wurden die „Briefe von Ruth“ 2023 in Gmunden aufgeführt und dann in vier Kategorien mit dem „Deutschen Musical Theaterpreis“ ausgezeichnet.
Wie sind die „Briefe“ musikalisch einzuordnen? Kvendokk verwendet – je nach Thema der Szene – verschiedene Ausdrücke. Ein wenig atonal in den Szenen, wo Ruths psychische Probleme zu Ausdruck kommen, dann viele Rezitative, aber auch recht eingängige Melodien, wenn es um die Beziehungen und Träume der Hauptprotagonistin geht. Allerdings – und das ist wichtig – findet sich beim Ende der „romantischen“ Teile, immer der eine oder andere Akkord, der darauf hinweist, dass das alles nicht so gut enden wird. Ansonsten nahm der Komponist auch Anleihen an Rhythmen, die in den 1930er Jahren modern waren (die „Überlandfahrt“ wurde im Parkett getanzt und gefeiert – für mich eine der stärksten Momente des Abends, weil man ja von Beginn an wusste, dass das nur ein kurzer Moment der Freude war….)
Immer wieder durchbrachen die Künstler die Barriere zum Publikum, als sie Originaltexte aus den Tagebüchern und Briefen vorlasen.
Für die Inszenierung war Philipp Moschitz verantwortlich, unterstützt von Matthias Engelmann (Bühne), Claudio Pohls (Kostüme) und Franz Tscheck (Licht). Die Choreographien entwarf Sven Niemeyer.
Als Einheitsbühnenbild verwendete man einen überdimensionalen, auf den Kopf gestellten Viehwaggon – einen, in denen die Jüdinnen und Juden seinerzeit in die Vernichtungslager gebracht wurden. Auf der einen Seite offen, waren auf der anderen Seite Fenster angebracht, durch die die Akteure die Bühne betreten bzw. verlassen konnten – ein sehr gelungener Kunstgriff. Wenn ich schreibe die „obligaten Koffer“, die rechts und links aufgehäuft waren, ist dies nicht abwertend gemeint – in diesem Zusammenhang passten sie natürlich (nur wurde diese Bild in den 2000er-Jahren von diversen Regisseuren bis zum Abwinken missbraucht).
Die beiden Hauptdarstellerinnen waren in Kleidern, die der damaligen Zeit nachempfunden waren, gekleidet. Stark geschminkt die weiteren sieben Akteure, die allesamt verschieden Rollen spielten.
Die Aufführung wurde von Emily Mrosek als Ruth beherrscht, die eine wirklich tolle Leistung zeigte. Im intimen Rahmen der Kammeroper ist es ja möglich, die Gesichtszüge der Künstler aus nächster Nähe zu beobachten – und Mroseks schauspielerische Fähigkeiten wurden in jedem Blick, jeder Geste zum Ausdruck gebracht. Sie hat – wie alle Sängerinnen und Sängern dieser Produktion – eine Musical-Ausbildung (theoretisch hätte man auch Künstler, die vom Operngesang her kommen, nehmen können) – was in diesem Fall meiner Meinung nach besser war. Sie hat eine fundierte Mittellage, kann Emotionen rüberbringen und war nur zu Beginn des Abends in der Höhe ein wenig eng, setzte dann später aber einen lupenreinen Spitzenton.
Die zweite Hauptfigur, Gunvor, wurde von Dorothea Maria Müller gesprochen und gesungen. Warum gesprochen? Im ersten Akt war die Gunvor hauptsächlich als Erzählerin eingesetzt und wurde erst später, als sich die beiden Frauen kennenlernten, in das Spiel einbezogen. Müller erbrachte eine – positiv gemeint – solide Leistung.
Wie oben beschrieben wurden die weiteren Künstlerinnen und Künstler in verschiedenen Rollen eingesetzt. Ein Pauschallob für Alen Hodzovic, Rinwald Kranner, Julia Bergen, Maaike Schuurmans, Anna Fleischhacker, Christoph Ruda und Jan-Eike Majert.
Herbert Pichler leitete umsichtig das zwölfköpfige Orchester der Vereinigten Bühnen Wien.
Foto: Herwig Prammer
Wie am Anfang beschrieben – der Applaus setzte erst ganz langsam ein – aber dann wurden die Künstler gefeiert, allen voran, und das mit Recht, Emily Mrosek.
Das Werk steht noch bis zum 16.März auf dem Spielplan – und ja, man sollte sich das anschauen.
Kurt Vlach