Alle Fotos: Barbara Zeininger
WIEN / Theater in der Josefstadt:
AM ZIEL vom Thomas Bernhard
Premiere: 12. März 2015
Besucht wurde die Generalprobe
Wir sind gewohnt, die Figuren Thomas Bernhards aus ihrer Verbissenheit, ihrer Bosheit, ja, ihrer dezidierten „Bösheit“ heraus zu begreifen, und das war der interpretatorische „Bernhard-Stil“, der ihm zu seinen Lebzeiten – zumindest in Österreich und einigermaßen auch im übrigen deutschen Sprachraum – zu solch überdimensionalen Theatererfolgen verholfen hat.
Als man nach seinem Tod (da gab es ja durch das testamentarische Verbot, ihn in Österreich zu spielen, auch eine Zwangspause, die dann „overruled“ wurde) Bernhard wieder spielte, wandte man sich vielfach von einem eisern-gnadenlos-brillanten Stil, der in den Malstrom der Sprache eintauchte, ab und suchte mit Hilfe des psychologischen Theaters einen neuen Zugang. So, wie es jetzt auch in der Josefstadt für „Am Ziel“ in der Regie von Cesare Lievi versucht wird. (Lievi war in den späten achtziger und neunziger Jahren des öfteren am Burgtheater zu Gast, inszenierte in der Staatsoper 1995 „Gesualdo“ und legte dann eine zwanzigjährige Wien-Pause ein.)
Klappt das mit Bernhards Stücken, die ja mehr Attacken als Menschengeschichten sind? Wobei sich diese lustvollen Angriffe des Autors, über die man sich einst (Presse und aufgescheuchtes Publikum) so herrlich erregen konnte, heute in Nichts aufgelöst haben.
Die Leute verstehen nichts… Sie beklatschen jede Ohrfeige… Sie werden von der Rampe herunter geohrfeigt und beklatschen das. Es gibt keine größere Perversität als die Perversität des Theaterpublikums.
Man hört es und hört es nicht, weil es ja nicht mehr weh tut, man hört vor allem nicht, dass er ja eigentlich Recht hat? Aber Bernhard ohne die „Erregung“, die er einst bedeutete, wirkt nur noch kraftlos.
Man schaue sich „Am Ziel“ an: Der Inhalt kommt uns nicht mehr sehr substanziell vor. Eine Mutter haßt Gott und die Welt, tyrannisiert kunstvoll die Tochter und bekommt auch von dem Dichter (man hat ihn immer schon als etwas kraftloses Bernhard-Porträt gesehen) kein wirkliches Paroli. Da steckt nicht so viel drinnen und noch weniger dahinter. Das war damals (1981 in Salzburg uraufgeführt) einfach Bernhard-Routine, Superrollen für die Superschauspieler, die ihm zur Verfügung standen, zumal solche, die sich mit persönlicher Lust in seine böse Suada vergruben wie bei der Uraufführung Marianne Hoppe in der Rolle der Mutter. Bernhard hatte ein Genre gefunden, das „Bernhard“-Stück, das er unermüdlich bediente. In der Nachwelt bröckelt da vieles als belanglos ab, die Beschimpfungen, die Wiederholungen, die einst unter die Haut gingen, offenbaren sich heute vorwiegend als Leerlauf.
Es ist klar, dass sich Andrea Jonasson nicht auf das Monster einlassen wollte. Sie hat sich die Rolle auf ihre strahlende Persönlichkeit zurecht gebogen: Statt Gift und Galle Glanz und Glorie ihres spezifisch Jonasson’schen Flirrens. So, wie sie – dass man mit 70 plus so phantastisch aussehen kann! – die „Mutter“ spielt, tut sie es (obwohl Bernhard sein Stück in Holland angesiedelt hat, zwischen einer Großstadt und dem Ferienhaus in Katwijk in Südholland, bekannt für seinen Sandstrand) im Tonfall der elegant-nörglerischen Cottage-Dame der Oberschicht. Sie hält ihre unglückselige Tochter zwar fest, krallt sich aber nicht in sie, so dass metaphorisch das Blut fließt. Auf diese Art wird Bernhard fast in Richtung Konversationsstück erträglich (oder verwässert?).
Dazu hat Maurizio Balò zwei großzügige Schauplätze gebaut, und niemand wundert sich, dass sie im Grunde dasselbe Haus sind, aus denselben Elementen bestehend, denn dass sich bei dieser Großbürgerin nichts und gar nichts ändert, das betont das Stück vielfach und zeigt es auch anschaulich, indem die Tochter im ersten Akt die zahllosen Kleidungsstücke einpackt, die sie im zweiten Akt im Sommerhaus wieder auspackt – und es sind, wie unmissverständlich erklärt wird, immer dieselben. Da ist auch eine so großzügige, großbürgerlich teils noble, teils starre Dekoration goldrichtig.
Birgit Hutter musste nicht nur die Mutter elegant und die Tochter dienstmädchenhaft kleiden, sondern auch die medizinische „Halskrause“ verbergen (Fraktur von zwei Halswirbeln, liest man in der Regenbogenpresse), die Andrea Jonasson tragen muss: Unter einem locker geschlungenen Schal merkt man fast gar nichts. Behindert ist diese große Dame in keiner Hinsicht.
Die Tochter, bei der Uraufführung von Kirsten Dene gespielt, darf in der ersten Hälfte des Stücks nur ein paar Stichworte geben. (Der Abend dauert übrigens noch immer volle drei Stunden, bei der Uraufführung waren es allerdings vier, es wurde schon gestrichen.) Sie ist unter den Willen der Mutter „gedrückt“, aber wie Therese Lohner mit Blicken kundtut, dass sie die Situation (und ihre eigene Aussichtslosigkeit) durchschaut, das hat seine eigene Spannung. Ihre Gefühle für den Dichter, der die Zweisamkeit der Frauen stören wird, sind da – Chance gibt sie ihnen nicht.
Dieser Dichter könnte / sollte / möchte vielleicht ein weiterer Gegenspieler sein, aber Christian Nickel als „dramatischer Schriftsteller“ wehrt sich nur geringfügig gegen weibliche Übermacht der Mutter, die sich in ihrer Suada sonnt. Denn seine Versuche, sich vor ihr aufzuspielen, werden schnell ausgehebelt – hier wiederum weniger als Akt von Macht und Bosheit, sondern fast als souveräner Boulevard…
Seltsam, dass für die Nicht-Rolle eines Dienstmädchens, das ein paar Minuten auf der Bühne herumlungern muss und gezählte drei Worte sagt, ausgerechnet Martina Emb ihren Ensemblegeist unter Beweis stellen muss, hat sie doch Josefstädter Hauptrollen und den frischen Fernsehruhm als „Vorstadtweib“ im Rücken. Man würde sie, überschminkt, übrigens gar nicht erkennen, und hätte Birgit Hutter ihr nicht eine weiße Perücke aufgesetzt, würde man sie vermutlich nicht einmal wahrnehmen, so sexy und auffallend sie sich auch gebärden will.
Am Ende des Josefstädter Abends steht ein Fragezeichen im Raum. Ist man „ans Ziel“ gelangt? Worin besteht es? Bernhard über die Jahrzehnte zu retten, indem man ihn kulinarisch macht? Aber die tote Pflege eines einstigen Stils kann es ja auch nicht sein? Also muss man sich fragen – wird Bernhard überleben?
Dass das Publikum keine Gelegenheit vorbei gehen lassen wird, große Schauspieler zu beklatschen, versteht sich. Der Autor ruht am Grinzinger Friedhof und ätzt vermutlich vor sich hin: „Es gibt keine größere Perversität als die Perversität des Theaterpublikums…“
Renate Wagner