WIEN/ ImPulsTanz:
Damien Jalet mit „Thrice“
am 28. Juli 2025im Volkstheater Wien
Zu einem Triptychon verbindet der französisch-belgische Tänzer und Ausnahme-Choreograf Damien Jalet, einem breiteren Publikum vielleicht eher bekannt als Choreograf von Shows von Madonna, seine in einem Zeitraum von 12 Jahren entstandenen Arbeiten „Gusts“, „Médusés“ und „Brise-lames“, insrpiriert von dem Gedicht „Wind, Wasser, Stein“ des mexikanischen Schriftstellers und Diplomaten Octavio Paz (1914-1998). Die Adaption der Bühne zwischen den Stücken wird zu der in einem performativen Akt formulierten Öffnung hin in eine andere Dimension.
Die fundamentale Bedeutung der Zahl Drei in der Numerologie, der griechischen Tragödie, der Religion, der Spiritualität und der Mathematik ist das bindende Element dieser drei so unterschiedlichen Stücke: Körper, Geist und Seele, die göttliche Trinität, die hinduistische Trimurti, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und das Symbol für Vollständigkeit und Einheit. Und für „Thrice“, hier mit der norwegischen Companie Nagelhus Schia Productions als Österreichische Erstaufführung zu sehen gewesen: Wind/Luft, Stein und Wasser werden zu einer einzigartigen Einheit verschmolzen, performt von drei, zwei mal drei und neun, also drei mal drei TänzerInnen.
Das erste Stück „Gusts“ wird musikalisch begleitet und dramaturgisch getragen von der eigens für dieses Tanzstück komponierten und (leider nur in der ersten Vorstellung) live gespielten Musik des norwegischen Jazzsaxofonisten Bendik Giske. Er beginnt mit tonlos gehauchten „Windböen“ (so der Name des Stückes auf deutsch), die die am Boden liegenden, in bunte Fetzen gekleideten drei TänzerInnen zu beatmen scheinen. Verebbt die Brise, entweicht sofort wieder jede Körperspannung.
Die Musik entwickelt sich peu a peu zu einem faszinierenden, hoch komplexen, polyphonen Klang-Spektakel. Giske setzt tiefe Grundtöne, spielt zwei bis drei Oktaven darüber mit atemberaubender Geschwindigkeit Koloraturen und Harmoniefolgen, bricht zunehmend häufig den reinen mit kreischendem Klang und seiner Stimme. Und: Er spielt eine Viertelstunde ohne Unterbrechung der Tonerzeugung, sein Instrument während der Einatmung aus den aufgeblasenen Backen mit Luft fütternd. Allein schon diesen Großmeister seines Faches bei der Arbeit, er wandert während des Spiels über die Bühne, erleben zu dürfen ist ein Geschenk!
Die Dynamik und die Poesie seiner so kraftvollen Komposition übersetzt das tanzende Trio in Bewegung. Die steigert sich in ein immer dynamischeres Aufeinandertreffen von Gravitation und Zentrifugalkräften zu einem in wechselnden Konstellationen im Lichtkegel sich Hingeben und Widerstand. Sie kreiseln um sich selbst in einem schier endlosen, am Ende des Stückes nur abgebrochenen, wirbelnden Tornado aus Klang. Hoch energetisch, ungemein spannend und mitreißend.
Völlig anders das 2013 entstandene Stück „Médusés“. Angelehnt an den Mythos der Medusa mit ihrer Fähigkeit, jeden, der sie ansah, zu versteinern, schuf Jalet hier ein Wechselspiel aus Bewegung und Starre. Erst von drei Männern in schwarzen Anzügen getanzt, die auf äußerst humorvolle Weise plötzlich ihre Bewegung einfrieren, von anderen bewegt werden und die die Erstarrung in einem sich beschleunigenden Ping-Pong-Spiel wie eine ansteckende Krankheit weitergeben. Und das alles in der Stille.
Bis dann drei Frauen, von den Männern wie Pfähle auf die Bühne gestellt oder gelegt, in weißen Kleidern aus textilen Streifen zum einsetzenden perkussiven Sound von Winter Family und Gabriele Miracle, der sie von der Bewegung in die Starre schickt und wieder erlöst, die fest-fluide Fluktuation in einem hinreißenden, energetischen Gruppentanz fortsetzen. Sie, die Frauen, lösen sich selbst aus der Erstarrung. Sie finden Freiheit, was den Männern nicht gelingt.
Wie Seegras unter der Wasseroberfläche schwingen neun TänzerInnen in hellgrauen Kostümen im Rhythmus der Wellen. „Brise-lames“ entstand in Zusammenarbeit mit dem Visual Artist JR im ersten Pandemie-Jahr. Uraufgeführt wurde es jedoch erst später in Oslo und erlebt hier bei ImPulsTanz seine zweite Aufführung überhaupt. Zur elektronischen und Live-Musik der Komponistin und Pianistin Koki Nakano spielen sie mit den vielen verschiedenen Möglichkeiten, wie Wellen entstehen, sich weiter bewegen, sich brechen, sich fortpflanzen, an Kraft zu- und abnehmen und reflektiert werden können. Sie sind willenlose Objekte, bewegt von einer unwiderstehlichen Macht. Es gibt keinen Widerstand. Es gibt nur gemeinschaftliches, verschieden synchronisiertes Handeln und die Weitergabe von Impulsen an den Nächsten. Ein erschreckendes Bild einer Gesellschaft im Tiefschlaf, auf eine so poetische Weise und tänzerisch so brillant präsentiert, dass einem der Atem stockt!
Die Kompanie Nagelhus Schia Productions zeigt sich als eine der herausragenden des zeitgenössischen Tanzes. Hochkarätige Einzelkönner mit enormen physischen und tänzerischen Fähigkeiten und selten zu erlebender Strahlkraft, mit Präzision und perfektem Timing vereint zu einem harmonischen Ensemble, geführt von einem der gefragtesten Choreografen unserer Zeit. Großartig!
Sie kämpfen in diesen drei Stücken auf so verschiedene Weise gegen das körperliche Erstarren, gegen die Festigkeit im Geist, gegen die Härte im Herzen. „Thrice“ ermutigt zu Widerstand gegen auch scheinbar übermächtige Kräfte, es fordert Wachheit, Solidarität, Sensibilität, Mitgefühl, Empathie. Menschlichkeit also.
Nach einem vermeintlichen Schluss, Applaus brandet bereits auf die Bühne, wendet sich das Stück. Sie bilden mit ihren Körpern ein Boot mit Passagieren, tot und lebendig, senkrecht von oben per Live-Kamera gefilmt und auf die Rückwand projiziert. Alle Romantik, jede Schönheit erstickt unter dieser Erinnerung an das, was das (Mittel-) Meer auch bedeutet: Es transportiert Flüchtlinge, die ihre Sehnsucht nach einem Leben in Frieden und ohne Verfolgung alle Gefahren in Kauf nehmen lässt. Viele von ihnen bezahlen es mit ihrem Leben.
Mit dem Schlussbild verleihen Damien Jalet und Aimilios Arapoglou, selbst Tänzer und Choreograf, der Jalet bei Erarbeitung des Stückes entscheidend unterstützte, der Arbeit eine bis dahin nicht erwartbare politische, vor allem aber emotionale Dimension. „Thrice“ gerät so zu einem Manifest gegen jegliche Verhärtung, vor allem gegen die sich in der europäischen Politik manifestierende Verhärtung des Herzens. Meisterlich in Choreografie, Tanz, Musik und Sound, Licht, Bühne und der Komposition des Stückes, zutiefst bewegend mit der Poesie seiner Bilder und dem Humanismus des Sujets. Ein großes Werk zeitgenössischer Tanzkunst!
Rando Hannemann