Florentina Holzingers „Sankta“-Orgie – der Festwochen-Hit (11.6.2024)
Sara Lancerio und Netti Nueganen,. Alle Fotos: Freie Republik Wiener Festwochen / Nicole Marianna Wytyczka
Wiens festwöchentliche Kurzzeitspielwiese ‘Freie Republik’ hat ihren Musiktheater-Höhepunkt erreicht: „Sankta“. Der Hit! Jedenfalls für dieses Publikum, welches sich an vier Abenden im Museumsquartier eingefunden hat. Glockengeläute mit nackten Frauenkörpern als Klöppel. Sich sinnlich aneinander schmiegende Nonnen. Oder deren Skater-Freuden. Und obendrauf eine körperlich schwerst behinderte Päpstin.
Markenzeichen: Florentina Holzinger. Der Wiener Perfomancekünstlerin, Choreographin, Regiedame, Jahrgang 1986, wird vorgeworfen ein übermäßig auf laute Effekte zielendes Episodentheater zu arrangieren. So in der heutigen Machart der Zeitgeist-Regisseure: All dies lustvoll vermanscht, das irgendwie in ein vorgegebenes Thema passen könnte. Mixturen, wie es zuvor etwa der rührige Festwochen-Chef Milo Rau in seiner „La Clemenza di Tito“–Produktion vorgeführt hatte. Nun, ist auch Holzingers System. Noch dazu ihr spektakuläres Performen mit einer gänzlich entblößten, locker voll mitgehenden weiblichen Crew. Solches jetzt absolut perfekt in dieser „Sanctus“-Show vorexerziert. Ihre gut überlegten musiktheatralischen Actions: Drastische Reflexionen über kirchliche Machtausübung, Unterdrückung, weibliche Selbstbestimmung und Sinnlichkeit, Grenzüberschreitungen, Falschheiten der Autoritäten, etc. etc. Der Reihe nach sind Perversionen gegeben …. und doch, so ist es eben menschlich. Psychisch erklärbar. Und forsch und intelligent und einfallsreich und überwiegend witzig mit sicherer ironischer Regiehand führt sie dies vor. Ohne Proteste des ziemlich gespannt mitgehenden Wiener Publikums.
Der beste Gag an diesem Abend: Dieses an Mitwirkenden wie an Material aufwändige Spektakel startet mit dem expressionistischen Operneinakter „Sancta Susanna“ des jungen Paul Hindemith aus dem Jahr 1922. Ein vergessener musikalischer Geniestreich. Und ein Aufschrei: Nonnenkloster, die Schwestern haben körperliche Verlangen, ohne kirchliche Gnade – eingemauert werden sie als Strafe. Und auf diese hochseriöse erste halbe Stunde spielt Holzinger mehr und mehr ihre Ingredienzien aus. Kirchliche Rituale poppig persiflierend: Die Sixtinische Kapelle als Kletterwand mit Gekreuzigten; ein freches Letztes Abendmahl; ein sich ruppig anbiedernder Jesus predigt: „Verschenkt eure Liebe!“; Messgesang und Weihrauch dazu; ein stimmiges ‚Agnus Dei‘ nahe dem Ende. Na ja, so einiges mehr, überdies manch bisschen in die Länge ziehendes, bis zur ins Ohr gehenden Orgie …. Und bei Holzinger ist auch stets die Suche nach direkter Kommunikation mit dem Publikum und nach dessen Sympathie gegeben. Hat gut in diesem Rahmen funktioniert.
Zur perfekt spekulierten Show gehört natürlich ein perfektes Team. Ist so! Die schwedische Dirigentin Marit Strindlund hat einen originellen, einen zündenden Musikbrei arrangiert. Klassiker, Rachmaninow, Doderer, Cole Porter, Gospelgesang, Musicalsound hören sich gut an, erzielen dichte Atmosphäre. Und da dies eine in Schwerin einstudierte Koproduktion mit Berlin, Stuttgart, Antwerpen, Rotterdam ist – das Orchester des Mecklenburgischen Staatstheaters gibt sich als Spitzensemble aus, und dessen singende Chordamen dürfen auch ihre Nonnenkleidung anbehalten.
Somit zurück zu Paul Hindemith. Vor hundert Jahren hatte er es mit Aufschrei und Sensitivität formuliert; Florentina Holzinger drückt es für die Menschen von heute mit tänzerisch geschwungenem Holzhammer aus: Das Verlangen nach einem Heiland, ist es nicht mit Vorsicht, mit allem Misstrauen aufzunehmen?
Meinhard Rüdenauer