WIEN / Festsaal Amtshaus Wien 3: CAMERATA POLONIA – Chopin-Konzert zum 175. Todestag
15. November 2024
Von Manfred A. Schmid
Wien und Chopin. Eine Beziehung, die 1829 vielversprechend begonnen hatte: Der neunzehnjährige Pianist und angehende Komponist war eigens zur Uraufführung seiner zwei Jahre davor entstandenen Variationen über „Là ci darem la mano“ für Klavier und Orchester nach Wien angereist, um dieses Werk als Solist aus der Taufe zu heben. Sein Opus 2, Variationen über das Duett in Mozarts Oper Don Giovanni, von dem sich ein Autograph in der Version für Klavier solo in der Österreichischen Nationalbibliothek befindet, wurde von Publikum und Kritik begeistert aufgenommen. Von November 1830 bis Juli 1831 lebte Chopin dann als begehrter Pianist in Wien, bis er angesichts der ungünstigen politischen Umstände, wohl aber auch, weil er als Komponist nicht die erwartete Aufnahme gefunden hatte, über München und Straßburg nach Paris weiterreiste, wo er bis zu seinem Tod am 17. Oktober 1849 bleiben sollte. Wien war also nur eine kurze Episode im kurzen Künstlerleben des polnischen Klaviervirtuosen und Komponisten. Dennoch ist die Chopin-Pflege gerade in Wien traditionsgemäß sehr ausgeprägt. Die Stadt ist Sitz der Internationalen Chopin Gesellschaft in Wien, und mit der Camerata Polonia gibt es in Wien auch das weltweit einzige polnische Orchester außerhalb des Landes.
Im Rahmen der heuer zum 29. Mal vom Forum Polonia veranstalteten „Polnischen Kulturtage in Österreich“, die diesmal dem Gedenken an Chopins 175. Todestag gewidmet sind, fand am 15. November 2024 im Festsaal des Amtshauses Wien 3 ein Konzert statt. Auf dem Programm standen außer Chopin-Klassikern auch Kompositionen von zwei nichtpolnischen Meistern sowie drei Beispiele aus seinem nur selten zu hörenden Liedschaffen. Dass in der Programmplanung zudem neben dem Orchester auch dem Klavier gebührender Platz eingeräumt wird, versteht sich von selbst.
Den Beginn macht Chopins berühmte Polonaise A-Dur op. 40 Nr. 1, arrangiert für Kammerorchester. Unter der Leitung von Maestro Marek Kudlicki werden von der Camerata Polonia vor allem die majestätischen Züge des Werks herausgearbeitet. Elegant und kraftvoll, feierlich und selbstbewusst entfaltet sich die rhythmisch stark akzentuierte Musik. Von diesem Stück oft zugeschriebenen militärischen Facetten ist in dieser, stellenweise auch sehr anmutigen Interpretation kaum etwas zu vernehmen. Das ist auch gut so. Besonders in Zeiten, wenn täglich vom Schrecken der Kriege die Rede ist.
Locker und ruhig ausschwingend klingt die im Anschluss dargebotene „Sicilienne“ aus der Suite Pelléas et Mélisande op. 78 des Franzosen Gabriel Fauré. Was diese Komposition, ursprünglich für Violoncello und Klavier geschrieben, mit Chopin verbindet und erklärt, warum gerade dieses impressionistische Stück ausgewählt wurde, ist wohl die tänzerische Note wie auch eine bitter-süße, melancholische Grundstimmung sowie das Changieren zwischen Dur und Moll.
Spannend ist es, Chopins Prelude Des-Dur op. 28 Nr.15 in einer Instrumentation für Kammerorchester zu hören. Das wegen der Begleitung der kantablen Melodie durch stete Wiederholung des gleichen Tons (As bzw. Gis) auch „Regentropfen-Prelude“ genannte Werk, das tatsächlich an fallende, aufklatschende Regentropfen erinnert, steigert sich hier zu einem veritablen Guss. Auch wenn sich sein Schöpfer gegen eine solche Natur-Zuschreibung, wie sie von seiner Partnerin Georges Sand verbreitet worden war, gewehrt haben soll.
Dass es von Chopin, der fast ausschließlich für das Klavier komponiert hat, auch an die 19 Lieder gibt, ist kaum bekannt. Umso erfreulicher, dass bei diesem Konzert auch drei Raritäten aus dieser Gattung zur Aufführung kommen. Die Sopranistin Aleksandra Szmyd, als verführerische Musetta in der Klosterneuburger La Bohème 2022, als Paquette in Candide an der Kammeroper 2019 sowie als Frasquita in der Steinbruch-Carmen 2023 in guter Erinnerung, erweist sich bei ihrer orchestral begleiteten Interpretation der Lieder „Zyczenie“ (Mädchen Wunsch), „Pionska litewska (Litauisches Lied) und Sliczny chlopiec (Schöner Knabe) als eine exzellente Liedsängerin. Vor allem ist ihr hoch anzurechnen, dass sie die volksliedhaft angehauchten Kompositionen so lässt, wie sie sind: anmutig einfache, dem Volkston abgelauschte, ungekünstelte, liebenswerte Gebilde.
Chopins erst posthum veröffentlichte, aber schon um 1830 komponierte Nocturne cis-Moll, seiner Schwester Ludwika gewidmet, hat tatsächlich einer jungen Pianistin, die im Nazi-Konzentrationslager Plaszów interniert war, das Leben gerettet: Natalia Karp spielte es dem gefürchteten Lagerleiter Amon Göth vor, der von der Wiedergabe so beeindruckt war, dass er sie am Leben ließ. Das lento con gran espressione umzusetzende Stück, dem übrigens auch im Film Der Pianist von Roman Polanski eine lebensrettende Rolle zukommt, wird in der kammermusikalischen Version von Dirigent Kudlicki und Anna Gutowska (Solovioline) auch so ausgeführt: Langsam, mit großem Ausdruck und mit tiefem Ernst.
Für unbeschwerte, heiter bis leicht herbe Stimmung sorgt dann Edvard Griegs Zwei nordische Weisen (I. Im Volkston, II. Kuhreigen und Bauerntanz). Eine Komposition für Kammerorchester, die durchaus in Zusammenhang mit den zuvor gehörten, volksliedhaften Liedkompostionen Chopins gesehen werden kann, auch wenn sie etwas schroffer, eben nordischer, klingt.
Im großen Finale – die eingangs erwähnten Variationen über Mozarts Don Giovanni-Duett – werden dann alle Register gezogen. Chopin, der später in seinen großen Klavierwerken – mit Ausnahme der Grande Polonaise brillante Op. 22 – auf Orchestermusik ganz verzichtet hat, widmet sich dieser Kombination nur in seiner Jugendzeit, 1827-1830. Während er in seinen zwei Klavierkonzerten und drei weiteren konzertanten Stücken aus dieser Zeit keinen großen Wert auf das Orchester legt und ihm nur eine rein begleitende Funktion zuteilt, erweist sich der Orchesterpart in den Mozart-Variationen um einiges ausgefeilter. Das beginnt mit der recht ausführlichen orchestralen Einleitung in Moll, bleibt aber so auch in den immer brillanter werdenden, alle möglichen rhythmischen Konstellationen und kühne Harmonien auskostenden pianistischen Variationen, bei denen die Solistin Natalia Rehling nicht nur ihre atemberaubende Virtuosität in den fulminanten Läufen und Tonkaskaden ausspielt, sondern auch ihre analytische, auf Transparenz bedachte Gestaltungskraft einsetzt. Herrlich der krönende Abschluss mit – wie sollte es bei Chopin auch anders sein – einer bravourös komponierten und von Natalia Rehling ebenso bravourös dargebotenen Polonaise als Coda dieses einzigartigen Werks. Der erstaunliche künstlerische Reifegrad und die handwerkliche Geschicklichkeit lassen bereits erahnen, zu welchen Höhepunkten sein Weg ihn führen wird. Beim jubelnden Applaus kann man dem Urteil Robert Schumanns in seiner Rezension nur zustimmen: „Hut ab, Ihr Herren, ein Genie!“
Die Pianistin Rehling – derzeit in Österreich wohl d i e führende Chopin-Interpretin – bedankt sich beim begeisterten Publikum mit der Originalversion der eingangs vom Kammerorchester gespielten Polonaise A-Dur op. 40 Nr. 1. Eine festliche, geradezu majestätische Verbeugung vor einem der ganz großen Sterne im Komponistenhimmel. Kann gut sein, dass er an diesem Abend da oben mitgespielt hat.