Fotos: (c)Tommy Hetzel
WIEN / Burgtheater:
KÖNIG LEAR von William Shakespeare
Eine Produktion des Schauspiels Köln
Neuübertragung und Einrichtung für sechs Personen Auf der Grundlage der Übersetzung des Grafen Baudissin von Arnt Knieriem
Premiere: 10. November 2024
Theater ohne Gnade
Bei William Shakespeare ist alles da. Familienaufstellungen, die nach trügerisch-verlogener Harmonie das Gift von allen Seiten spritzen lassen. Das absurde Theater und das Theater der Grausamkeit. Und die Haupt- und Staatsaktion, in der sich Politisches und Privates blutig mischt. Kurz – „König Lear“, das berühmte Stück über den alten Mann, der den fatalsten aller Fehler begeht, sich im Vertrauen auf menschliche Anständigkeit seiner Macht zu entkleiden hat das alles… (Dass Menschen nichts von den Dichtern lernen, hat man nicht nur bei „Biedermann und die Brandstifter“ gemerkt, sonst säßen wir heute nicht dermaßen in der Bredouille. Zu „Lear“ fällt einem Reinhold Messner ein, der sein Vermögen schon zu Lebzeiten unter seinen Kindern verteilt hat, in der irrigen Hoffnung, alle mögen glücklich und zufrieden sein – und nun hat er die größte Familienfehde, die sich noch dazu an seiner Person abarbeitet: Auch die größte Bergsteiger-Karriere schützt vor lear’scher Dummheit nicht…)
Nun kann das Burgtheater in den letzten Jahrzehnten auf zwei luxusbesetzte „Lear“-Aufführungen zurück blicken: 2007 war es Gert Voss in der Titelrolle in der Regie von Luc Bondy (mit Birgit MinIchmayr als Narr), 2013 Klaus Maria Brandauer in der Regie von Peter Stein (mit Michael Maertens als Narr). Man hätte das Stück, zumal es bei aller Meisterschaft immer ein langer und trockener Brocken ist, also nicht unbedingt gebraucht. Aber Stefan Bachmann wollte auch diese Produktion aus Köln mitbringen, zumal Martin Reinke, der 30 Jahre lang geschätztes Ensemblemitglied in Köln war, ja am Burgtheater seit Jahren ein vertrautes Gesicht ist. Im übrigen wurden nur die beiden „bösen Schwestern“ mit Burgschauspielerinnen umbesetzt, der Rest der Besetzung ist derselbe wie in Köln und bietet mehrere Interpreten, die ins Wiener Ensemble mitgekommen sind.
Das heißt, so viele sind es ja gar nicht – denn bei der Kölner Fassung handelt es sich um Einrichtung für sechs Personen nach der Baudissin-Übersetzung, was aus einem „großen“, ungemein „verästelten“ Stück mit zahlreichen Darstellern und Ortswechseln ein vergleichsweise kleines macht, wobei die Doppel- und Dreifachbestzungen nicht immer sinnvoll erscheinen.
Reduziert hat Regisseur Rafael Sanchez (der nächstes Jahr das Schauspielhaus Zürich übernehmen wird) auch die vielen Schauplätze. Der neutrale, meist leere Raum wird von Bühnenbildner Simeon Meier gelegentlich mit Riesen-Platten gegliedert, die zumindest Auf- und Abtritte ermöglich: Gelinde seltsam sind, um es so vorsichtig zu formulieren, die Damen-Kostüme von Ursula Leuenberger, weil sie weder als Stil noch als Aussage greifbar werden.
Sechs Schauspieler also und ein Musiker, Pablo Giw, der gelegentlich mit einer schmalen Trompete und in einem schwarzen Damenrock herumschleicht und dessen Funktion auch nicht immer ersichtlich ist. Ebenso fragt man sich, wofür die Videos nötig sind, die übrigens so selten eingesetzt werden, dass man sie gar nicht brauchen würde.
Nun also im abstrakten Raum das Königsdrama, das hier vor allem zur privaten Tragödie wird. Wobei Hauptdarsteller Martin Reinke eben nicht das Flair einer Fürsten-Persönlichkeit hat, sondern vielmehr ein heiterer alter Herr ist, der sich von seinen Vasallen auf einem Podest herumtragen lässt und sich gewissermaßen auf die Pension freut. Zwei Töchter, Goneril und Regan, tun alles, was Erbschleicher tun, wenn es was zu gewinnen gilt, schmeicheln dem Papa und bekommen ihre Ländereien. Cordelia, die dritte Tochter, will dieses Spiel nicht mitmachen, ist höflich, aber diplomatisch ungeschickt, wird enterbt und vertrieben.
Nun ist „Lear“ gar nicht so einfach in den Griff zu bekommen – anfangs weiß man längst, was Lear erst erfahren muss, dass die lieben Töchter gar keine Lust haben, den machtlosen Vater mit Respekt zu behandeln (es schmerzt, wenn man zusieht, wie sie ihn behandeln). Und dann findet er sich lange genug auf der sturmbewegten Heide, wo er den Narren trifft, den unehelichen, aber ehrenhaften Sohn seines getreuen Gloster und schließlich diesen selbst, nachdem Regan (in dieser Fassung tut sie es selbst) ihm die Augen aus dem Gesicht getreten hat, was vom Publikum ziemlich gute Nerven erfordert… Der ganze Abend zeigt, dass der Regisseur gewissermaßen programmatisch ohne Gnade vorgegangen ist.
So geht man nach gut zwei Stunden in die Pause, und nachher muss sich der Regisseur bemühen, alle „politischen“ Handlungselemente in der stark gestrichenen Fassung mit seinen wenigen Figuren sinnvoll zu Ende zu bringen, bevor er – das ist dann recht schön – dem armen Lear eine Art „Tod und Verklärung“ bereitet. Die berühmte Szene, da dieser mit seiner toten Tochter Cordelia in den Armen auftritt, hat er seinem in zwei Jahren auf den 70er zusteuernden Hauptdarsteller nicht zugemutet.
Martin Reinke ist ein Lear eigener Art, anfangs ein, wie erwähnt, fröhlicher Alter, der sich nach und nach in Zorn und Empörung hineinsteigert, bis ihm die Stimme kippt. In der Heide kippt dann auch der Verstand, allerdings sind die Szenen, in denen er mit seiner Krone aus Strohalmen irrlichtert, nicht wirklich beklemmend, Aber die Psychologie von Lear nachzuzeichnen, wird immer schwieriger, je mehr das Stück fortschreitet. Ob am Ende auch Erkenntnis gewaltet hat? Trauer bestimmt.
Die guten Rollen sind die bösen Töchter. Allerdings muss Sylvie Rohrer als Goneril ihre hässliche Seele und ihre Leidenschaft für den skrupellosen Gloster-Sohn Edmund (die sie mit ihrer Schwester teilt) unter dem Kochtopf-Deckel halten, während Lilith Häßle als Regan so richtig loslegen darf. Seán McDonagh steht als attraktives Objekt der Begierde zwischen den Damen.
Die Cordelia ist an sich keine große Rolle, aber dass man der schmalen (nomen est omen) Katharina Schmalenberg (die für Stefan Bachmann auch schon einmal den Hamlet gespielt hat) deshalb auch noch den Narren und zusätzlich den nackt durch die Heide hüpfenden Edgar anvertrauen musste, wirkt wie eine Sparmaßnahme, die Köln vermutlich nicht nötig hätte. Und dass Bruno Cathomas nach seinem beeindruckenden Gloster auch noch in das Gewand des Herzogs von Albany schlüpfen muss (obwohl er eine exzellente Verwandlung hinlegt), ist auch schwer einzusehen. Denn soooo minimalistisch ist der Abend dann auch wieder nicht.
Was war es nun? Am Ende hat es dreidreiviertel Stunden gedauert, viel von dem Stück vermittelt, in düsterer Atmosphäre geschwelgt und einen soliden Theaterabend ergeben. So richtig glanzvolles Burgtheater war es wohl nicht, aber viel Beifall gab es dennoch.
Renate Wagner