Fotos: Burgtheaer / Horn
WIEN / Burgtheater:
INGOLSTADT
Nach Fegefeuer in Ingolstadt und Pioniere in Ingolstadt von Marieluise Fleißer in einer Bearbeitung von Koen Tachelet
Koproduktion mit den Salzburger Festspielen
Wiener Premiere: 4. September 2022
Von Salzburg nach Wien, wo die Premiere von „Ingolstadt“ im Burgtheater nicht eben überlaufen war. Marieluise Fleißer (1901–1974) hat hier keine Theatertradition, so viel wir auch Horvath, dem sie in ihrer Arbeit verwandt ist, oder Brecht, dem sie in ihrem Leben nahe stand, spielen. „Ingolstadt“ fasst ihre beiden berühmtesten Stücke „Fegefeuer in Ingolstadt“ und „Pioniere in Ingolstadt“ zu zweieinhalbstündigem, pausenlosem Stückwerk zusammen, das dem flämischen Regisseur Ivo van Hove Gelegenheit gibt zu zeigen, wie schaurig gut er das Regiehandwerk beherrscht.
Ob das „neue“ Stück aus den beiden Vorlagen wirklich geglückt ist, möchte man allerdings bezweifeln. Ingolstadt, für die hier geborene und die meiste Zeit hier lebende Marieluise Fleißer nicht nur bayerische Provinz, sondern Provinz schlechthin, setzt in beiden Stücken auf Kollektive, im „Fegefeuer“, ihrem dramatischen Erstlingswerk von 1928, auf eine Gruppe von Gymnasiasten (Wedekind lässt grüßen), in den wenig später entstandenen „Pionieren“ (“Komödie“ genannt!) um ein Battalion von Soldaten, die für kurze Zeit nach Ingolstadt abkommandiert werden.
Die Schicksale von Stück 1 und 2 werden so gemischt, dass absolut kein neues Stück entsteht, sondern eine eher unübersichtliche Szenenfolge, in denen – außer Roelle, dem Helden des „Fegefeuers“ – kaum eine Figur eine kontinuierliche Entwicklung erfährt. Da die Sprache der Fleisser gar nicht so einfach ist und die Sprechkultur der Darsteller nicht eben bemerkenswert, hapert es oft an der puren Verständlichkeit. Abgesehen davon, dass die aufblitzenden Schicksale sich nicht wirklich verbinden.
Aber was Regisseur Ivo van Hove noch mehr ausreizte als die Fleißer, ist das homo homini lupus, sind Demütigungen und Gemeinheiten, Gewalt und Folter – in den Teich, der sich auf der Bühne befindet, müssen fast alle schmerzlich tauchen, und Steinigungen, nackt am Pranger, Gewaltszenen aller Art durchziehen den Abend. Die Brutalität des Militärs herrscht vor, choreographisch und brüllend vermittelt, die brutale Rücksichtslosigkeit einer kapitalistischen patriarchalischen Oberschicht desgleichen. Was die bei der Fleißer so wichtige Religion betrifft, begnügt man sich damit, das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser kollektiv aufsagen zu lassen.
Agiert wird in einem teils volksfesthaft beleuchteten Bühnenbild à la Horvath (Jan Versweyveld) in glanzlosen Gegenwartskostümen, die wie echter Alltag aussehen (An D´Huys).
Jan Bülow ist Roelle, aber der Charakter des Schwächlings entwickelt sich nicht wirklich, während Elisabeth Augustin als seine starke Mutter ein paar ebenso starke Auftritte hat. Marie-Luise Stockinger als geplagte Olga tobt sich als jugendliche Wutbürgerin durch die Szene, Lili Winderlich als ihre Schwester spuckt Gift und Galle vor Eifersucht gegen diese. Bemerkenswert Dagna Litzenberger Vinet als das Dienstmädchen, das sich für das Militär prostituiert und den kürzeren zieht, schmäler fällt das Schicksal von Berta (Lilith Häßle) aus.
Sind die Frauen gelegentlich auf- und wieder abtauchende Tupfen von Schicksalen, so profiliert sich aus der Unzahl junger Männer keiner. Wohl aber Oliver Nägele, der alle alten, hässlichen Männer spielen muss, vom strengen Vater über den rücksichtslosen Unternehmer bis zum Feldwebel, und er macht es fabelhaft.
Bleibt am Ende nur die Frage, was man von dieser exzessiven Brutalität auf der Bühne halten soll, wenn man nicht achselzuckend darüber hinweggehen will. Um daraus „Gewinn“ zu ziehen, muss man Sadist oder Masochist sein. Und wirklich Neues über die Schlechtigkeit der Menschen erfährt man auch nicht. Sicher, das Theater ist auch Spiegel der Welt, und diese ist hässlich genug. Aber sich inmitten der realen Hässlichkeit das auch noch in solcher Überdosis auf der Bühne anzutun… da g’hört was dazu! würde Nestroy sagen.
Renate Wagner