Alle Fotos: Barbara Zeininger
WIEN / Burgtheater:
HERMANN UND DOROTHEA von Johann Wolfgang Goethe
Premiere: 1. Oktober 2016
Selbst wenn es um nichts anderes ginge, als dass der schüchterne Hermann in schlimmen Zeiten das Heldenmädchen Dorothea fände und sie gegen gesellschaftliche Vorurteile (er ist reich, sie ist arm, er ist „von hier“, sie ist eine Fremde) heiratet – „Hermann und Dorothea“ wäre immer noch von Goethe und ein Meisterwerk. Wie viel sich darin finden lässt, erweist nun eine „Aufführung“, sprich: etwas erweiterte Lesung im Burgtheater, die auch jene überraschen wird, die noch zu der Generation gehören, die dieses Epos in ihrer Jugend gelesen haben. Denn im allgemeinen begegnet man dem Prosa-Goethe im Lauf seines Lebens eher selten – und wie schwierig seine Sprache, wie anders seine Welt war… ja, das merkt man immer wieder, wenn man sich fragt, wie die Handy-Generation damit zurecht kommen soll.
Regisseur Alfred Kirchner, einst mit Peymann in Wien, mit seinen Produktionen hier nicht sehr beliebt, in Bayreuth ein „Ring“-Regisseur, zuletzt im Wiener Umfeld gelegentlich in Reichenau inszenierend, ist wieder einmal an das Burgtheater zurückgekehrt. An „Hermann und Dorothea“ interessierte ihn, wie er in einem APA-Gespräch sagte, vor allem das Flüchtlingsproblem, und das ist in diesem Fall tatsächlich nicht aufgesetzt. Goethe hat hier wirklich seine eigenen Erlebnisse, Eindrücke und auch Schrecken angesichts der Französischen Revolution, der darauf folgenden Kriege und auch der Flüchtlingsströme in sein Epos, das eben mehr ist als nur eine Liebesgeschichte, eingebracht.
Gleich zu Beginn geht es darum, wenn der Wirt vom „Goldenen Löwen“ und seine Gattin sich über die Flüchtlinge unterhalten: mit schaudernder Neugier einerseits, was anderen da Schreckliches passiert; mit unzweifelhafter Hilfsbereitschaft (man will sich ja freikaufen), die aber bitte nicht zu weit gehen soll; mit dem Gefühl, man möchte eigentlich lieber doch nicht wissen, wie es den armen Leuten geht, das würde einen selbst doch zu sehr verstören, nicht wahr; und schließlich – Gott bewahre – mit der unguten, beunruhigenden Idee, dass einem selbst so etwas zustoßen könnte…
All das ist nachvollziehbar, von vielen von uns als Emotion selbst erlebt, von Goethe in souveräne psychologische Meisterschaft gegossen, mit hintergründigem Humor diesen satten Bürgern im Nacken sitzend. Immer wieder ziseliert er sie präzise aus, nicht nur die wohlbestallten Wirtsleute (polternder Vater, betuliche Mutter – dazu der Sohn, es ist wahrlich auch eine Familienaufstellung), auch den Apotheker, den Pfarrer. Und natürlich den schüchternen Hermann, den die Mutter mit „Hilfsgütern“ zu den Flüchtlingen schickt, wo er Dorothea sieht und wie vom Blitz getroffen ist.
Man darf die Parallelen, vor allem in der Geschichte der Liebenden, nicht zu weit treiben: Die Ausländerin ist nicht farbig, nicht proletarisch, nicht fremd und inkompatibel, dafür sorgt Goethe schon, hier greift das Lehrstück nicht so, wie man es heute sicher gerne wollte. Den Vater stört auch vor allem, dass die Braut kein Geld hat, alles andere ist sekundär (also keine direkte Fremdenfeindlichkeit zu orten). Aber die Flüchtlingsproblematik, die bleibt stark in dem Epos verankert, das Goethe – man war damals noch gebildet – in neun Abschnitte geteilt hat, die nach den neun Musen benannt sind.
Szenische Lesungen auf die Bühne zu stellen, ist stets ein Problem der besonderen Art: einerseits muss man sich für ein vielleicht ungeduldiges und schausüchtiges Publikum „etwas“ einfallen lassen, andererseits sollte man den Text nicht stören, zumal, wenn er so komplex und auch schwierig, daneben aber geradezu fremd in seiner stellenweise (ironischen) Betulichkeit ist wie dieser hier. Nur am Ende hat Goethe ein bisschen „gepredigt“, und die Aufführung tut es ihm nach, wenn die Darstellerin sich frontal zum Publikum aufstellt und dafür sorgt, dass wir Goethes zeitgeschichtliche Reflexionen über den Zerfall einer bestehenden Welt als heutige Analyse begreifen.
Der Text ist tatsächlich entscheidend, und aller „Aufputz“ (mit Kränzen, die von einem Gestell genommen werden, Kerzen am Fußboden, warum?) erweist sich als eigentlich überflüssig (Raum: Jura Grösch), ist Firlefanz – außer wenn Maria Happel sich ans Klavier setzt, spielt und singt – das kann sie nämlich so unvergleichlich, dass man sich gleich wieder einen Lieder/Chansonabend von ihr wünschen würde. Apropos – warum diese „kleine“ Produktion unbedingt im großen Burgtheater stattfinden musste, das schon bei der Premiere nicht sehr voll war?
Doch es ist egal, wo man das „spielt“, so lange man Maria Happel und Martin Schwab hat. Wie wunderbar, dass hier exzellente Sprecher sich einmal geistig und akustisch auf der Höhe ihres Textes befinden (und diese Höhe ist im Falle Goethes sehr hoch), dass sie „mit verteilten Rollen“ einfach alles spielen können, die einzelnen Protagonisten ebenso wie die beschreibenden Texte, aus denen sie nicht selten Pointen holen. Dabei ist es nicht immer gänzlich einfach, pausenlose eindreiviertel Stunden dieser so in sich verschränkten Geschichte zuzuhören, aber wenn es jemand tatsächlich zu einem Vergnügen höherer Art machen kann, dann diese beiden…
Das ist schon ein Gustostück, dieser Abend.
Renate Wagner