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WIEN / Burgtheater: DIE RATTEN

28.03.2019 | KRITIKEN, Theater


Fotos: Burgtheater / Copyright: Bernd Uhlig

WIEN / Burgtheater:
DIE RATTEN von Gerhart Hauptmann
Premiere: 27. März 2019

Zu Beginn scheint es, als habe man einen lauten, temperamentvollen Theaterabend (projektierte Spieldauer: zweieinhalb Stunden ohne Pause, genau eingehalten) vor sich. Die Drehbühne rotiert zu lauter Musik heftig. Man weiß auf Anhieb, dass man es mit keinem Berliner Mietshaus Ende des 19. Jahrhunderts zu tun hat, nicht mit der Wohnung der Familie John, nicht mit dem Theaterfundus des ehemaligen Direktors Harro Hassenreuter.

Martin Zehetgruber, ständiger Mitarbeiter von Regisseurin Andrea Breth, hat ihr für Gerhart Hauptmanns „Ratten“ einen hoch symbolischen Raum geschaffen, der meist (wenn auch später langsam) in Bewegung ist. Auf der Bühne stehen Plastikwände, die sich zu keinem konkreten Räumen öffnen, der Boden ist voll von Papiermüll, aber es befinden sich auch genügend Töpfe und Pfannen auf der Erde, um gelegentlich Höllenlärm zu machen (etwa, wenn Frauen über einander herfallen). Drei riesige Ratten-Skulpturen etwa in Wildschweingröße stehen ohne weitere Funktion, einfach um ihres Symbolgehalts wegen, herum.

Die Inszenierung deklariert sich von Anfang an – man ist in einer kaputten Welt, in der kaputte Menschen herumwanken. Ganz am Ende, wenn der Vorhang längst fallen könnte und die Regisseurin ihre Figuren noch einmal zu Trauermusik langsam irrlichtern lässt (die Toten, auferstanden, einbegriffen), ist es gänzlich klar: Das Theater als (gewaltig dick aufgetragener) symbolischer Raum.

Nun kann man es ja verstehen. Gerhart Hauptmann hat in seinen naturalistischen Stücken Effekte nur so übereinander getürmt. Obwohl die „Ratten“ in Wien selten gespielt wurden (am Burgtheater 1981 und 1989, zuletzt am Volkstheater 2010), so weiß man doch, wie klischeebehaftet die Figuren sind: Frau John als „das Muttertier“, Herr John als der knochenanständige Mann, Direktor Hassenreuter nicht viel besser als ein schwadronierender Striese, Bruno Mechelke als das tückische Böse, Pauline Piperkarcka als der Underdog aus dem Ostblock (sie dürfte ruhig polnischen Akzent haben, auch heute verkaufen verzweifelte junge Frauen im Ausland ihre Kinder)… kurz, wollte man das so auf die Bühne bringen, wäre es vermutlich wirkungsvoll bis an die Grenze der Unerträglichkeit.

Nun, Regisseurin Andrea Breth hat immer gegen den Strich gebürstet. Keine ihrer Figuren entspricht dem Klischee – allerdings auf die Gefahr hin, dass sie teilweise geradezu farblos werden. Wenn Frau John die Verzweiflung, ja Besessenheit, mit der sie sich ein Kind wünscht, nicht wirklich ausspielen darf – wie viel bleibt von der starken Figur? Wenn Herr Direktor Hassenreuter sich nobel unterspielt, bekommt er nicht nur keine Lacher, sondern auch keine Kontur. Einige (die Piperkarcka) dürfen gelegentlich herumtoben, auf die Tube drücken. Es gibt die unterdrückten Figuren und die überzogenen, aber dass einer so richtig in der Rolle stünde und nicht dauernd sein „Konzept“ vor sich hertrüge, das passiert an diesem Abend kaum.

Vor allem aber hat die Aufführung jenen quälend-lang gezogenen, schweren Duktus, den Andrea Breth ihren Inszenierungen gerne gibt. Es ist ein Teil ihres Ruhms, weil Masochisten dergleichen für großartig, ehrlich und anspruchsvoll halten – was weh tut, ist wertvoll. Aber man kann auch verzweifelt in seinem Theatersessel kleben und über weite Strecken das Gefühl haben, der Abend bewege sich nicht von der Stelle. Und die von der Regisseurin verfremdeten Figuren erzählten eigentlich kaum mehr eine Geschichte. Immerhin – ein Lebensgefühl der totalen Verzweiflung, ja, das ist es geworden. Wenn das als Konzept genügt…

Nicholas Ofczarek, Johanna Wokalek

Andrea Breth hat „ihre“ Schauspieler, mit denen sie immer gerne zusammen arbeitet, und sie durfte sie auch hier einsetzen bis in die kleinste Rolle. Andrea Clausen fiel bedauerlicherweise krankheitshalber aus, aber das bot Andrea Eckert die Gelegenheit, aus dem Auftritt der Sidonie Knobbe eine große Szene auf die ihr eigene, hintergründige Art zu machen. Der Rest ist Breth – sie ruft, und alle, die schon lange nicht da waren, kommen. Wie Johanna Wokalek die relativ jung und modern für die Frau John wirkt und nur nach und nach ihre Beherrschtheit verliert, ohne die Figur wirklich auszureizen. Dafür tobt Sarah Viktoria Frick, ganz ohne Akzent, die Piperkarcka, ziemlich theatergerecht, stellenweise auch ziemlich künstlich.

Sven-Eric Bechtolf hat nach seinem Abenteuer als Salzburger Schauspielchef nicht mehr so richtig den Fuß auf die Bühnenbretter fassen können. Für die Breth ist er da, der Hassenreuter in seiner zwiespältigen Pracht könnte ihm liegen, es darf nur in dieser Inszenierung gar keine schillernde Figur daraus werden, und das ist eigentlich schade. Offenbar schwer, den richtigen Ton zu finden. Seiner Frau (Sylvie Rohrer) und seiner Tochter (Marie-Luise Stockinger) gelingt das eher, und dem Theologiestudenten Spitta, der lieber zum Theater will, erst recht: Christoph Luser liefert eine der überzeugendsten Leistungen des Abends. Als sein Vater, der Pastor mit der Theaterphobie, ereifert sich Roland Koch in Grenzen.

Die Schauspielerin Alice Rütterbusch, von Andrea Wenzl in nicht gänzlich überzeugendem Wienerisch gespielt, trägt das gleiche Kleid wie Sidonie Knobbe – soll dies der Hinweis auf ein Frauenschicksal in zwei Lebensstadien sein? Alina Fritsch darf die Selma Knobbe mit zunehmender Verzweiflung spielen, Elisabeth Augustin ist eine verstockte Sozialberaterin, wie wir heute sagen würden.

Und da sind noch zwei große Männerrollen: Oliver Stokowski ist als Herr John nicht unbedingt der starke Charakter, der Fels, auf den eine Frau baut, der macht sich schon mit Mätzchen interessant, als es die Figur noch nicht ist. Und da ist noch Bruno Mechelke: Ist die Rolle wirklich so klein? Jedenfalls nützt Nicholas Ofczarek als Frau Johns krimineller Bruder jede Gelegenheit, sich debil und gefährlich durch seine Bühnenpräsenz zu grinsen, wie eine Karikatur aus einem Horrorfilm.

Teuer sind hier sogar Nebenrollen besetzt, mit Branko Samarovski , Bernd Birkhahn, Stefan Hunstein (den man beim ersten Blick für Breths Leib-und-Magen-Schauspieler Wolfgang Michael halten könnte). Wenn Andrea Breth gesichtsloses „Volk“ ins Geschehen bringt (nicht wirklich nötig, aber bitte), dann sind sie mit Nylonstrümpfen übergezogen tatsächlich gesichtslos. Ganz am Ende bleiben sie als Leichen auf der Müll-Bühne.

Der Beifall war heftig, und Andrea Breth schien ihn zu genießen, unterbrach ihn allerdings, um dem Publikum mitzuteilen, das sei ihre letzte Inszenierung am Burgtheater gewesen. Sie bedanke sich für die Anteilnahme des Publikums an ihrer Arbeit seit 1990 (tatsächlich hat sie 22 Stücke auf Burg-, Akademietheater- und einmal auch Kasino-Bretter gebracht), bedankte sich bei den Schauspielern … und hat sich in zahlreichen Interviews zu dieser letzten Burgtheater-Inszenierung ausführlich als eine der ganz großen Regisseurinnen unserer Zeit feiern lassen. Leicht hat sie’s dem Publikum nie gemacht – auch zum Abschied nicht. Aber wer verlangt das schon?

Renate Wagner

 

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