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Foto: (c) Andreas Pohlmann / Burgtheater
WIEN / Burgtheater:
DIE BAKCHEN von Euripides
Premiere: 12. September 2019
Die Herausforderung war eine totale. Selbst wenn man den Arbeiten des Regisseurs Ulrich Rasche schon einmal begegnet ist (seine gerappten Münchner „Räuber“ vom Berliner Theatertreffen hat 3sat gezeigt), wurde man von seiner Aufführung der „Bakchen“ als Eröffnungspremiere der Ära Kusej am Burgtheater total überfahren. Was war das? Ein Ritual? Ein Oratorium? Eine gigantische Maschine, wie man sie seit dem New Yorker „Ring“ von Lepage nicht mehr gesehen hat? Jedenfalls war es – zumindest im ersten Teil – eine Überwältigung.
„Die Bakchen“, dieses blutrünstige Stück Theater der Grausamkeit aus der Antike – und hier so gewaltsam exekutiert, dass einem der Begriff „archaisch“ geradezu entgegenleuchtet – , ist nicht leicht zu packen. Gott Dionysos auf Rachefeldzug gegen Pentheus, den Herrscher von Theben, der ihn nicht anerkennen will. Dafür stürzt der Gott (Bacchus ist sein alternativer Name) die Bevölkerung der Stadt in einen orgiastischen Rausch, trickst Pentheus mitten hinein und lässt ihn von dessen verblendeter Mutter Agaue höchstpersönlich morden… Schwer für uns, etwas damit anzufangen.
Was tut Regisseur Ulrich Rasche? „Form“ ist seine Spezialität, vor allem in Gestalt von Maschinen. Seine Figuren, die bis auf zwei Szenen im Grunde entmenscht sind, einfach Sprechmaschinen, die ihren Text frontal ins Publikum schreien, stehen auf Laufbändern. (In einem Interview gab der Regisseur die Erklärung, das Leben sei anstrengend, das solle man auch im Theater merken.) Die gewaltige Maschine, die er konstruiert und auf die Bühne gestellt hat, ist ein Meisterstück der Verwandlungs- und Stimmungsmöglichkeiten, die durch raffinierteste Lichteffekte noch verstärkt werden. Und natürlich durch die Musik – ein paar Streicher und eine schier geniale kleine Dame am Schlagwerk sind ohne Unterlass gefordert: ein Abend mit Musik, von Nico van Wersch ausdrucksstark und oft quälend komponiert. Ein „Gesamtkunstwerk“, wie man es sich nur vorstellen kann, Können und Logistik auf dem höchsten Niveau, was sich auch darauf erstreckt, wie Solisten und vor allem die Chöre „da oben“ auf der Maschine geführt werden. Auf langsam laufenden Bändern unter ihren Füßen, so dass sie sich bewegen und doch auf der Stelle bleiben…
Kollektive und Einzelfiguren, meist im Halbdunkel, brüllen, skandieren, singen teilweise ihre Texte mit höchster Lautstärke. Zwei Stunden bis zur Pause ist man in einem einzigen Sog von Bild und Ton gefangen, der zweifellos viele Nerven kostet. Wenn allerdings im zweiten Teil plötzlich die Figuren wie Menschen agieren, wenn Dionysos den Pentheus in die Falle lockt und wenn der alte Kadmos in quälender Langsamkeit (gefühlte Stunden lang) seiner Tochter Agaue klar macht, dass sie im Wahnsinnstoben ihren eigenen Sohn getötet hat… dann wirkt das nicht nur schier unerträglich, sondern stellt auch einen ungeheuren Antiklimax zum ersten Teil dar. Aber zweifellos hat der Regisseur genau das beabsichtigt…
Ein Chor, und skandiert er noch so präzise (die Chorleiter haben schier unglaubliche Arbeit geleistet – und die Interpreten erst recht), ist notgedrungen nicht immer verständlich, zumal die Mikrophone einen akustischen Overkill erzeugen. Die Problematik stellt sich bei durchgehenden zwei Stunden bis zur Pause schnell ein – es gibt immer wieder Passagen, die einförmig wirken. Und vor allem ist die Aussage der Inszenierung schwierig zu transportieren. Glücklicherweise geben Regisseure vor der Premiere Interviews, Ulrich Rasche konnte das Wort „rechtsradikal“ nicht oft genug wiederholen. Und wenn er und sein Dramaturg Sebastian Huber die an sich so klare, vorzügliche Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt bearbeitet haben, dann rast der Chor vor der Pause: „Wir holen uns unser Land zurück!“ Und dann ist glockenklar, was gemeint ist – auch ganz am Ende, wenn Agaue ihren Schmerz dann doch noch in ein paar belehrende Sentenzen münden lässt. Aber dennoch: Was an diesem Abend beeindruckt, ist die Machart, weniger die politische Botschaft, die sich im Formalen versteckt.
Unirdisch ist die Beanspruchung der Stimmbänder, die den Darstellern (allen) abverlangt wird. Der junge Franz Pätzold als androgyner, um seine „göttliche Stellung“ besorgter, fickrig machtgeiler, rachelustiger und hintersinniger Dionysos hat die beherrschende Rolle des Abends. Der Pentheus des Felix Rech steht ihm stark und erwachsen gegenüber und unterliegt. Martin Schwab reflektiert das Entsetzen der älteren Generation, wenn klar wird, dass die Familiengeschichte schief läuft. Markus Meyer als Chorführer tritt vereinzelt solistisch hervor, Hans Dieter Knebel bleibt als Teiresias am Rande.
Ursprünglich war Sylvie Roher als Agaue angesetzt (aber vielleicht wollte sie auch nicht eine halbe Stunde barbusig auf der Bühne stehen), aber Katja Bürkle (nicht gerade im Alter einer „Mutter“) übernahm. Halb mit schwarzem Blut beschmiert, ohne den Kopf des Sohnes in den Händen, wie vorgesehen, musste sie sich von ihrem Vater vom Erstaunen zum Entsetzen führen lassen. Vielleicht hätte eine im Alter gestandenere Interpretin das überzeugender geschafft.
Alles in allem war es ein Abend, der nicht nur die Nerven, sondern auch die Bereitwilligkeit und die Intelligenz der Zuschauer forderte. Man wird sich an manches gewöhnen müssen am Burgtheater von Martin Kusej, zweifellos auch an Überraschungen. Der Einstand, wie ein Donnerschlag, ließ daran keinen Zweifel. Viel Applaus derer, die nicht in der Pause das Weite gesucht hatten.
Renate Wagner