Fotos: Burgtheater / Matthias Horn
WIEN / Burgtheater:
DER SELBSTMÖRDER von Nikolai Erdman
Premiere: 29. Oktober 2021
Kein Wunder, dass schon die Zeitgenossen entdeckt haben, was in diesem Nikolai Erdman (1900-1970) steckte, nämlich ein Gogol seiner Epoche (obwohl er nur zwei Theaterstücke geschrieben hat). Und auch kein Wunder, dass eine wohl funktionierende Zensur der Stalin-Ära die Uraufführung seines zweiten Werks, „Der Selbstmörder“, 1928 verboten hat. Erst kurz vor Erdmans Tod kam es zur Uraufführung, wurde damals allerdings viel nachgespielt, auch gleich 1970 am Burgtheater, damals mit Heinz Reincke in der Titelrolle. Nun erreicht das Stück Wien und ebendieses Burgtheater (nachdem es zwischendurch 2012 sehr erfolgreich im Theater Scala zu sehen war) erneut. Und sieht ganz anders – und durchaus seltsam aus.
Betrachtet man den Inhalt, ist er wahrlich Gogol-würdig. Eine Satire auf gesellschaftliche Verhältnisse, an denen sich im „neuen Russland“ im Vergleich zum Zarenreich nicht so viel geändert hatte, auch wenn man es hier mit einer niedrigeren Gesellschaftsschicht zu tun hat als jener, die früher auf die Bühne kam. Und eine Groteske menschlichen Verhaltens zwischen Verzweiflung und Gier, Eigennutz und Niederträchtigkeit.
Das alles erfährt Semjon Semjonowitsch, als er, zwischen Hunger, Arbeitslosigkeit und Aussichtslosigkeit eingeklemmt, das Leben in Stalins Welt wirklich nicht für lebenswert hält. Und merkt, dass er für seine Mitmenschen interessant wird, als diese meinen, er wolle sich umbringen. Denn das könnten viele von ihnen, von der so genannten „Intelligenzija“ bis zu den Popen, gut instrumentalisieren – und eine Halbwelt-Dame fände es auch günstig, wenn er sich ihretwegen umbrächte, und die Wursthändler auch…
Das hat nicht viel greifbare Handlung, aber umso mehr Situationskomik, und bei aller Überdrehtheit ins Absurde geht es doch noch um Menschen und deren bissig analysiertes Verhalten. Nicht so in der Inszenierung, die das Burgtheater dem Regie-Duo Peter Jordan / Leonhard Koppelmann anvertraut hat. Die sahen in Erdmans Stück einfach die gnadenlose Verhöhnung einer Gesellschaft, die sie gänzlich von der Realität abhoben und mit Brutalo-Slapstick in die Theaterwelt der Gleichnishaftigkeit erhoben.
Dafür baute ihnen Michael Sieberock ein Einheitsbühnenbild, wo hinter einer riesigen Wellblechwand, die gelegentlich rot aufleuchtet und mit Hammer und Sichel geschmückt ist, von Zeit zu Zeit die U-Bahn (oder was immer) lautstark herbeirattert. Ein realer Raum ist es nicht, aber man erlebt ja auch kein realistisches Stück – allein, wenn man den abgerissenen, teils irre gestylten Haufen von Schreckensfiguren aus dem Untergrund betrachtet, die die Bühne füllen. Eine „bürgerliche“ Tragikomödie ist das weiß Gott nicht mehr… weit eher ein Horror-Kabinett.
Es wird auf „Stil“ gespielt und das zweifellos brillant, aber erstens werden solche Regiekunststücke, die den Schauspielern bei geschrienem Text und dauernden künstlichen Zuckungen höchste Kunstfertigkeit abverlangen, schnell langweilig und einförmig. Und außerdem geht die Konzentration auf die Form auf Kosten des Inhalts – auch weil von den acht Darstellern die sieben neben der Hauptfigur alle mehrere Rollen übernehmen. Da wird das Chaos, wer da aller von Semjon profitieren will, ziemlich undurchdringlich, und man soll / muss sich mit der unendlichen Blödelei begnügen.
Besonders schlimm wird es dann nach der Pause des gut zweidreiviertelstündigen Abends, wenn das „Begräbnis“ von Semjon bis zur Unerträglichkeit ausgewalzt wird. Und der Hauptdarsteller Mühe hat, die „Sein oder Nichtsein“-Überlegungen über Leben und Sterben, über Dasein und Nichtsein, doch einigermaßen ans Publikum zu bringen (die sind nämlich nicht grotesk und bösartig, wie alles andere, sondern menschlich). Es ist faszinierend, wie sich Florian Teichtmeister in seiner neuen Burgtheater-Karriere verändert hat, nicht nur optisch (kaum wiederzuerkennen), sondern auch in der Bereitschaft, mit seinen Figuren bis zum Äußersten zu gehen. In diesem Sinn ist er für eine Inszenierung wie die gebotene eine ideale Besetzung. Im übrigen geht er als Einziger unter all den schrllen, kreischenden Karikaturen als Mensch durch…
Die anderen sind nur zappelnde Schreihälse, die auf Pointen und Exzentrik abzielen. Die drei Damen – Lilith Häßle als Semjons Frau, Katharina Pichler als seine Schwiegermutter, die akkurat so aussieht wie die Tochter, und Alexandra Henkel als alle übrigen Frauenzimmer – sind auf Gekreische abgestellt, die Herren, bei denen Markus Hering besonders abenteuerlich-untergrundmäßig aussieht, auf ein Kuriositätenkabinett – Dietmar König, Tim Werths, Bardo Böhlefeld spielen alles, was ihnen unter die Finger kommt. Und sehr gut, um das zu wiederholen.
Die Inszenierung ist fraglos ein Kunststück. Aber die meiste Zeit ein äußerst mühseliges. Sagen wir es so: Der Abend kann einem auf die Nerven gehen. Und hinterlässt das Gefühl, dass man eigentlich wenig vom Stück und seiner Substanz und viel vom Willen der Regisseure gesehen hat.
Renate Wagner