WIEN / Oberes Belvedere:
LEBENSNAH
Realistische Malerei von 1850 bis 1950
Vom 18. März 2022 bis zum 1. November 2022
Aus der Düsternis zur Wahrheit
Das Belvedere hat in seinen „unteren“ Gebäuden mit der „Venedig“-Ausstellung und der Schau, die Salvador Dali mit Sigmund Freud verlinkt, zwei wahre „Schlager“ zu bieten. Allerdings will man sich nicht damit begnügen, dass das Publikum „ohnedies“ ins Obere Belvedere kommt, um mit Klimts „Kuss“ eines der berühmtesten Gemälde der Welt zu betrachten. Es geht dem Haus auch darum, die eigenen Bestände unter immer neuen Blickwinkeln zusammen zu stellen. Mit „Lebensnah“ füllt man nun acht Räume im zweiten Stock zu einer großen Präsentation dessen, was zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert neben vielen anderen Strömungen als „realistisch“ zu betrachten ist.
Von Renate Wagner
Realismus Es ist schon so, nicht nur in der bildenden Kunst, aber auch dort: Das Spektakuläre ist im allgemeinen beliebter als das Schlichte, die schöne Fassade, die die Wahrheit überdeckt, findet mehr Beachtung in der medialen Öffentlichkeit. Das Porträt einer älteren, glanzlosen Frau, das Gustav Klimt in seiner Frühzeit malte, wird im Gegensatz zu seinen auffallend schönen Frauenbildnissen kaum bekannt sein. Und so versteht man im Belvedere – auch dem Zeitgeist folgend – den „Realismus“. Nicht als stilistische Vorgabe, denn Einheitlichkeit ist den gezeigten Werken nicht zueigen, wohl aber als thematischen Grundriß einer Ausstellung, die aus den Beständen des Hauses jene Bilder hervorgesucht hat, die sich dem „wahren Leben“ und nicht der schönen Fassade zuwandten.
Andere Motive, andere Ästhetik Sowohl die Romantik wie der Historismus neigten dazu, die Welt im Bild zu beschönigen. Die „Realisten“, die sich auf Gustave Courbet bezogen, der den Begriff prägte, konnten sich in ihrer Malweise vielfach ausdrücken, aber sie fanden sich in der Thematik: Alltag, „echte“ Menschen, darunter viele ältere, die sonst nur das Thema waren, wenn sie zu den Reichen und Mächtigen zählten, die Arbeitswelt mit ihren Protagonisten, den Knechten und Mägden, den Bediensten, oder jene Menschen, die sich auf dem Bild von Friedrich Alois Schon an der Brücke von Sarajewo drängen – kurz, ein nüchterner Blick, wobei man die Sozialromantik aussparte.
Porträts ohne Pomp Auch die ausgewählten Porträts sind unspektakulär – Franz Lenbach, von Arnold Böcklin gemalt, hängt neben dem Bildnis von Luis Trenker, das Sergius Pauser schuf, und sie sehen so unbeteiligt in die Welt wie Ruth von Mayenburg, gemalt von Rudolf Hausner. Der Kopf eines ungenannten Bauernmädchens von Wilhelm Leibl ist zwar anmutig, aber sie sieht den Betrachter nicht an, sie schaut zur Seite, fast, als wollte sie sich verstecken. Die Bilder dieser Ausstellung springen die Besucher nicht durch ihren Farbenreichtum oder ihre eleganten Formen an, sie verlangen den Blick vielfach auf das Düstere, auf das Besinnliche. Die Beispiele sind zahlreich.
Nicht nur, aber auch große Namen Zweifellos war es die Absicht der beiden Kuratoren Kerstin Jesse und Franz Smola, sparsam mit den großen Namen umzugehen, und wenn, diese in ungewohnter Form zu zeigen. Von Emil Jakob Schindler keine seiner verführerischen Landschaften, sondern eine Sägemühle im Morgennebel (immer noch „schön“ genug). Man findet einen Van Gogh und einen Courbet , einen Romako und einen Pettenkofen, zwei Waldmüller und einen, aber viele erkennt man nicht auf Anhieb als Werke ihrer Schöpfer, weil die Kuratoren das Untypische suchten.
79 Künstler Im Grunde ist die Ausstellung, die sich in Themenschwerpunkte gliedert, eine Fundgrube für Künstler, die von der Entwicklung in die zweite Reihe gedrängt wurden, obwohl sie absolut zurecht im Museum hängen. Jeder Besucher wird da, dem eigenen Interesse entsprechend, vielleicht ein persönliches „Lieblingsstück“ finden – vielleicht den so vertieft „Lesenden Mann“ von Emanuel Baschny oder die leicht gelangweilte junge Frau im Museum, wie August Eduard Wenzel sie malte. Das ist ebenso ein kleines humoristisches Highlight wie „Caesar am Rubicon“ von Wilhelm Trübner, was nichts anderes zeigt als ein Hund, der seine Schnauze erwartungsvoll auf dem Esstisch parkt… Kurz, es ist eine Ausstellung, die man aus vielen verschiedenen Aspekten betrachten kann.
WIEN / Oberes Belvedere:
LEBENSNAH
Realistische Malerei von 1850 bis 1950
Bis zum 1. November 2022, täglich von 10 bis 18 Uhr