Alle Fotos: Tommy Hetzel
WIEN / Akademietheater des Burgtheaters:
DIE WURZEL AUS SEIN von Wajdi Mouawad
Deutschsprachige Erstaufführung
Premiere: 12. April 2025
Was wäre, wenn…
Im September 2007 war man als Wiener Theaterbesucher sehr beeindruckt, als man im Akademietheater (übrigens in der Regie von Stefan Bachmann…) erstmals dem Dramatiker Wajdi Mouawad begegnete. In seinem Stück „Verbrennungen“ behandelte der gebürtige Libanese, der in Frankreich lebt, die seelischen Probleme der Migration durch die Generationen. Das ging geradezu schmerzlich unter die Haut.
Als der Autor im September 2019 (auch im Akademietheater) erneut auf den Spielplan kam, war sein Stück „Vögel“ über den israelisch-palästinensischen Konflikt nicht annähernd so überzeugend, zudem dramaturgisch ein wirres Chaos. Nun, ein – wenn auch absichtsvolles – Chaos bekommt man auch mit „Die Wurzel aus Sein“ (als Titel kaum überzeugend), wieder im Akademietheater, wieder inszeniert von Stefan Bachmann. Wenigstens ist der Autor dahin zurück gekehrt, wo er innerlich beheimatet ist – in den Libanon und zu den Problemen der Migranten in ihren Gast-Gesellschaften.
Was wäre, wenn… Wajdi Mouawa, der als Kind auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg mit seinen Eltern mehr zufällig über Frankreich nach Kanada kam, wo er dann aufwuchs, weiß sehr gut, dass alles auch ganz anders hätte kommen können. Schließlich leben Libanesen in aller Welt. Sein Held Talyani Waqar Malik hätte auch in Frankreich und ebenso in Kanada, aber genau so gut in Rom oder in Texas landen können. Wie hätte sein Schicksal dann ausgesehen?
Fünf Variationen einer Figur, wobei der Talyani in Texas das schwerste, unglaubwürdigste und pathetischste Schicksal auferlegt bekommt, weil der Autor es nicht einmal für nötig hält, auch nur annähernd zu begründen, warum dieser als junger Mann einfach zwei Menschen erschossen hat. Und warum man sich nach 33 (!) Jahren im Gefängnis entschließt, ihn doch noch hinzurichten. Wie sich das Baby von einst, das Talyanis Massaker damals überlebte, jetzt bemüht, sein Leben zu retten… also überzeugend ist das nicht.
Eher noch die Geschichte des eitlen, kontroversiellen Malers in Kanada, dessen Leben vor allem durch Familienfehden zerrüttet wird, wobei ein aggressiver sterbender Vater seine unglückseligen Nachkommen ziemlich sadistisch terrorisiert.
Auch nicht wirklich gut getroffen hat es der eitle Chirurg in Rom, der in seinem Ferrari bei einem Crash die albanische Prostituierte am Nebensitz tot fährt und im übrigen von seinen Kindern, von denen er nie etwas wissen wollte, gewissermaßen gejagt wird. Seine Tochter geht voll Verachtung mit ihm ins Bett – man sieht, Wajdi Mouawad hat sich mehr um szenische Crash-Effekte als um glaubwürdige Schicksale gekümmert.
Da ist einem der brave Taxichauffeur in Paris noch am liebsten, der allerdings kein besonderes Schicksal hat – bei ihm geht es um seinen Fahrgast, einen Umweltschützer, der mit einer Bande engagierter Jugendlicher in die Bredouille gerät, als sie ehrenhaft, aber gewaltsam Bäume retten wollen…
Ja, und wenn die Familie von Talyani Waqar Malik auch in Bürgerkriegszeiten im Libanon geblieben wäre, dann säße er in seinem Wohnzimmer mit überaktiver Gattin und mürrischen Kindern und erlebte am eigenen Leib die Katastrophe von 2020, als der Hafen von Beirut explodierte und einen Teil der Stat in Mitleidenschaft zog…
Dieses Ereignis, das wohl alle Libanesen in aller Welt in höchste Erregung versetzte, spielt permanent mit, während die Handlung sich immer mehr verwirrt. Lernt man die Protagonisten anfangs gewissermaßen von Szene zu Szene nacheinander kennen, stehen nach und nach fast alle zugleich auf der Bühne – und der überbeschäftigte Hauptdarsteller braucht nur eine Drehung, und er ist schon eines seiner anderen Ichs…
Wenn das die flankierenden Figuren (alle außer Talyani und seinem Vater spielen viele Rollen) auch mitmachen, dann wächst die Inszenierung von Stefan Bachmann zum logistischen Meisterstück hoch, das letztendlich vor nur ein paar Stellwänden (Bühnenbild: Olaf Altmann) stattfindet. Dass man sich für den Großteil der vor allem laut, schreiend und zu oft mit händeringendem Pathos agierenden Herrschaften nicht erwärmen kann – dafür ist der Autor zuständig. Der Regisseur nur ein bißchen, denn mit dreieinhalb Stunden Spielzeit wird die Sache schon recht mühsam. Weniger ginge auch.
Thiemo Strutzenberger, der einem bisher noch nicht sonderlich aufgefallen ist, beeindruckt als fünffacher Talyani, weil er nur ganz wenige äußere Hilfsmittel erhält, seine Figuren zu differenzieren, und es dennoch schafft. Bei ihm weiß man immer, wer auf der Bühne steht, bei den anderen nicht unbedingt.
So gelingen auch unter den Nebenrollen nur einige bemerkenswerte Leistungen, Martin Reinke etwa als ziemliches Vater-Monster oder Markus Hering als stiller, überzeugter Naturschützer, Tim Werths als versuchter Lebensretter (mit einem schier unspielbaren Monolog). Die anderen – Alexander Angeletta. Franziska Hackl. Lilith Häßle. Melanie Kretschmann. Rebecca Lindauer, Elisa Plüss – verwandeln sich so oft und nachdrücklich, dass sie für die Schwierigkeiten, mit denen sie an diesem komplexen Abend zu kämpfen haben, kaum individuell belohnt werden.
Vielleicht sollte Wajdi Mouawad seine Ambitionen wieder zurück schrauben, sich vom ausschweifenden Erzählen mit irrealen Effekten zu „echten“ Geschichten hinarbeiten. Das kann er doch auch und bringt für die Zuschauer mehr.
Renate Wagner