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WIEN / Akademietheater: ALLES, WAS DER FALL IST

09.06.2021 | KRITIKEN, Theater

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Fotos: Burgtheater /  (c) Marcella Ruiz Cruz

WIEN / Akademietheater des Burgtheaters:
ALLES, WAS DER FALL IST
Dead Centre nach Ludwig Wittgenstein
Uraufführung
Premiere: 8. Juni 2021

Der so berühmte „Tractatus logico-philosophicus“ des österreichischen, nach Großbritannien abgewanderten Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889, sechs Tage jünger als Adolf Hitler, bis 1951) ist relativ leicht zugänglich, man kann ihn als schmales gelbes Reclam-Heftchen erwerben. Weit weniger einfach ist die Lektüre, die schon Generationen von Intellektuellen Kopfzerbrechen bereitet hat. Letztendlich – wenn man es recht verstanden hat – sagt uns Wittgenstein, dass uns Menschen nur die Sprache zur Verfügung steht, und dass diese ein recht unzulängliches Mittel sei, die Welt zu erfassen.

Immerhin war er geschickt genug, an den Anfang und an das Ende seines Werks zwei Formulierungen zu stellen, die gewiß zu den berühmtesten Zitaten in der Geschichte der Philosophie gelten dürfen. Zuerst „Die Welt ist alles, was der Fall ist“, dann „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Wenn man erleichtert diesen Satz vernimmt, ist der 90minütige Abend im Akademietheater, der sich „Alles, was der Fall ist“ nennt, zu Ende. Das britische Team aus Dublin / London, das sich „Dead Centre“ nennt und aus den Autoren / Regisseuren Ben Kidd & Bush Moukarzel besteht, versucht darin eine Nachhilfestunde, die sich aber in Gefilde verrennt, wo Wittgenstein ganz weit weg ist.

Die beiden haben uns ja schon einen Sigmund-Freud-Abend beschert, aber der war (allerdings durch Improvisation etwas wacklig) weit einfacher zu bewältigen, konnte man sich da doch auf bekannt Biographisches über den Vater der Psychoanalyse zurück ziehen. Ludwig Wittgenstein hingegen spielt bei „Alles, was der Fall ist“ überhaupt nicht mit – höchstens als Behauptung des Schauspielers Philipp Hauß, er sei Wittgenstein, aber das ist so ernst nicht gemeint und wird auch weiter nicht ausgeführt.

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Es beginnt auf leerer Bühne, besagter Philipp Hauß ist Zentrum des Geschehens, Erzähler, Kommentator, erst gegen Ende Mitspieler. Dass man bei Wittgenstein ganz leicht den Boden unter den Füßen verliert, wenn er sich mit „Wirklichkeit“ auseinander setzt, soll hier in einer Parallelaktion mit dem „Theater“ an sich festgemacht werden. Ein Ort der Unsicherheit, wo alles auch anders sein kann, aber doch auch ein Ort des Gleichnisses, der den Menschen beim Begreifen helfen kann.

Nun haben sich die Autoren als „Fall“ etwas ausgesucht, das gar nicht weiter von Wittgenstein entfernt sein könnte: nämlich die Amokfahrt von Graz aus dem Jahre 2015, die wohl niemand vergessen hat. Statt um Philosophie geht es jetzt um Psychologie, um die Frage nach dem „Bösen an sich“. Dazu wird parallel Shakespeares „Macbeth“ befragt, und das szenische Tohuwabohu könnte nicht größer sein.

Denn auf einmal sind die Autoren auf der Suche nach dem Motiv des bosnischen Täters, das dieser ja nie preisgegeben hat. War es das Elternhaus? War es die Ehefrau, die vor seinen Prügeln davon gelaufen ist und so seine Wut auf andere richten ließ? Oder, wenn man noch tiefer zurück geht, war es die Flucht von Bosnien nach Österreich – wo man dann im Wald den Hexen von „Macbeth“ begegnet, Philipp Hauß sich in Macbeth verwandelt, aber auch der Täter ist… Und worum es letztlich gehen soll, was da eigentlich ausgesagt wird, ist von schönster Unklarheit. Ist es das, was den Autoren ausgerechnet zu Wittgenstein einfällt? „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ – daran hätte man sich auch halten können.

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Immerhin, als Theaterabend sind die eineinhalb pausenlosen Stunden kunstvoll gemacht, das kleine Puppentheater, in das Philipp Hauß das Spielzeugauto vor verschiedene Hintergründe stellt, wird durch Projektion für das Publikum riesengroß, die Künste der Videomacher, die mit allen filmischen Tricks da auch „Echtmenschen“ hinein kopieren, sind bedeutend, es könnte gelegentlich fast lustig sein (wenn eine Riesenhand dem kleinen Menschlein Feuer gibt…).

Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Nicht sehr, wenn es ums Theater geht. Eher doch, wenn ein Amokläufer drei Menschen ermordet und 36 schwer verletzt wie damals in Graz. Was sich als Anschauungsbeispiel nicht wirklich überzeugend eignet.

Hauß trägt den Abend, zwei Damen (Alexandra Henkel und     Andrea Wenzl) bekommen gelegentlich eine Szene, zwei Herren (Tim Werths und Johannes Zirner) so gar nicht: Da stiehlt übrigens allen Menschen ein Live-Hund mühelos die Show.

Das Publikum klatschte heftig, ob es jetzt mehr über Wittgenstein weiß, ist zu bezweifeln. Immerhin konnte man am Heimweg im Programmheft lesen, wie sich auch Ingeborg Bachmann mit dem Thema abgemüht hat.

Renate Wagner

 

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