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WAGNER-REGIE VOM 19. JAHRHUNDERT BIS HEUTE

16.11.2020 | buch, CD/DVD/BUCH/Apps

Szenen-Macher
Wagner-Regie vom 19. Jahrhundert bis heute
Hg: Katharina Wagner, Holger von Berg, Marie Luise Maintz,
238 Seiten, Verlag Bärenreiter, 2020

Die Bayreuther Festspiele pflegen seit 2017 allsommerlich ihre „theoretische Schiene“, genannt „Diskurs Bayreuth“, jeweils unter einem General-Motto. Im Corona-Jahr 2020 hat man das auf den Videostream verlegt, doch was 2019 noch live geboten und diskutiert wurde, ist nun zwischen Buchdeckeln nachzulesen. Motto: „Szenen Macher“. Also (doppelsinnig und doch eindeutig) eines der Themen, das in Bayreuth (und darüber hinaus) am leidenschaftlichsten diskutiert wird: Wagner-Regie.

Was täte die Nachwelt, hätte Wagner nicht einst am 8. September 1852 das „Kinder! Macht Neues!“ an Franz Liszt geschrieben. Doch man kann in dem Artikel von Rebecca Grotjahn über Wilhelmine Schröder-Devrient nachlesen (Seite 89), dass Wagner das keinesfalls auf die Regie bezogen hat (wie es heute gerne hingedreht wird), sondern einzig und allein für künftige Musik angedacht hat. Sich also in den „neuen Interpretation“ auf Wagner selbst zu berufen, ist nicht zulässig – auch wenn er selbst am Ende mit dem Gerümpel auf der Bayreuther Bühne nicht mehr glücklich war. Cosima war aber nicht die einzige Witwe, die ein „Modell“ aus dem Gatten machen wollte – man kennt eine andere Witwe, Helene Weigel, die auf die Brecht’schen Modell-Inszenierungen bestand…

Das Thema Wagner-Regie wird in thematischen Beiträgen und Diskussionen / Gesprächen in Hinblick auf einst und heute umkreist, wobei man mit einer „Legende“ beginnt: dem „Jahrhundert-Ring“ von Boulez / Chereau 1976. Und hier erfährt man aufgrund des dokumentarischen Materials, das hervor geholt wurde (Autor: Stephan Mösch), faktische Hintergrund-Information – es war ein langer, langer Weg zum letztendlichen Triumph. Man liest etwa, dass der später auf den Händen der Erinnerung getragene Patrice Chereau durchaus nicht die erste Wahl war. Als Ingmar Bergman und Peter Brook Wolfgang Wagner abgesagt hatten, blieben noch Peter Stein und Chereau, wobei mit Stein lange verhandelt wurde und dieser auf die Absage von Bayreuth wutschnaubend reagierte. Aber Wolfgang Wagner hatte sich für den „jugendlichen Elan“ Chereaus entschieden. Und WW, der eigentlich stets nur den abstrahierenden Weg Tietjens nachgegangen war, war fortschrittlich genug, um etwas zu dulden, das „abweichend“ vom sonst praktizierten „Stilschema“ verfahren sollte… Man geht Schritt für Schritt bis zur Inszenierung, die im ersten Jahr geradezu wütend abgelehnt und fünf Jahre später mit eineinhalbstündigem Schlußapplaus gefeiert wurde.

Die Themen rund um Wagner sind ein ziemlich abgegrastes Feld. Wahrscheinlich gibt es keinen anderen Komponisten (auch nicht Mozart oder Beethoven), über den es so viel Literatur gibt, über den die Wissenschaftler-Köpfe so geraucht haben. Abgesehen von der längst vorhandenen, ungeheuer peniblen Sichtung des historischen Faktenmaterials.

Was immer noch offen ist, ist der verschiedene Blick, der auf Menschen und Leistungen geworfen wird – etwa, wie man die „Revolution“ von Regisseur Heinz Tietjen sieht, der in der Ära von Winifred Wagner den ganzen Historismus-Ballast abwarf – Autor Matthias Pasdzierny glaubt, dass hier weder Traditionsbruch noch Originalität beabsichtigt waren, sondern einfach der Weg durch die Partitur als „tönende Regieanweisung“.

Eine (zögerliche) Neubewertung von Winifred Wagner findet sich bei Kerstin Schüssler-Bach (wobei über die „Infotainment“-Darstellung der Beziehung Winifred-Hitler bei Brigitte Hamann etwas die Nase gerümpft wird).  Die Exkulpierung etwa Siegfried Wagners von seinem Antisemitismus und von Wieland Wagner von seiner Nähe zu Hitler wurde allgemein vollzogen, während Winifred die verachtete „Nazisse“ bleibt, obwohl sie Bayreuth in extrem schwierigen Zeiten zu manövrieren hatte – und in ihrer Faszination für Hitler ja nicht die einzige war. Wie viele Frauen hätten wohl widerstanden, wenn der mächtigste Mann Deutschlands nach Bayreuth kam, ihr auf österreichische Art die Hand küsste und sie wie eine  Fürstin behandelte? Simpel, aber unwiderstehlich.

In den zahlreichen Gesprächen umkreisen meist Regisseure theoretisierend ihre Ideen, aber man findet auch kleine Schmankerln. Etwa, wenn Peter Esterhazy seine Erinnerungen an den Wiener Stehplatz kund tut: „Es gibt nur eine Entschuldigung für diese ‚Früher war alles besser’-Attitüde: Ich bin das klassische Wiener Stehplatz-Kind. Und man kann sich das neurotischer und zwanghafter nicht vorstellen.“ Seit seinem zwölften Lebensjahr war die Oper „mein Lebensraum, meine Alternative“.

„Und tatsächlich kann ein Kind in diesem selbst gewählten Ort der Erkenntnis einiges über das Leben lernen, über die Absurdität des ewig Erneuten, über diesen Widerspruch, wenn das Gleiche wieder und wieder erscheint, aber doch auf geheimnisvolle Weise verwandelt. Das hat mich existenziell fasziniert, denn: So ist das Theater, nicht wahr? Und so ist das Leben, richtig?“

Renate Wagner

 

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