Volker Reinhardt
VOLTAIRE
Die Abenteuer der Freiheit
607 Seiten, C.H.Beck, 2022
Vorsatz und Nachsatz dieses Buches zeigen die um 1777 entstandenen „Raubvogelkopf“-Karikaturen eines Mannes mit prominenter Nase, stechenden Augen, immer etwas zerzaust wirkend – und dabei war er ein so klarer Kopf, dieser Monsieur „Voltaire“, wie er sich selbst nannte. Autor Volker Reinhardt, Professor für Geschichte an der Universität Fribourg, der dem Beck-Verlag schon einige Bestseller geliefert hat (zuletzt das Pandemie-Buch über die große Pest), stellt gleich im Vorwort die Frage, die auch dem Leser, der zu diesem Buch greift, erst einmal durch den Kopf ging. Warum Voltaire? Oder genauer: Warum jetzt?
Seine Lebensdaten, 1694 – 1778, geben keinen „runden“ Jahrestag preis, der sonst zu neuen Büchern führt. In Frankreich nannte man das 18. Jahrhundert (posthum) das Jahrhundert Voltaires, aber was weiß das 21, Jahrhundert von ihm?
Vielleicht doch einiges in Frankreich, wo man nach den „Charlie Hebdo“-Morden „Voltaire“ aufs Banner schrieb, als Symbol für Denk-, Meinungs- und Redefreiheit (die ja derzeit bei uns auch im Argen liegen). Kenner der deutschen Geschichte werden Voltaire eng mit Friedrich dem Großen verbinden. Aber sonst?
Doch wenn ein Mann, der zwar nicht makellos war (das erfährt man schon noch), aber doch vorbildhaft, aus dem Bewusstsein mehr oder minder verschwunden ist – dann besteht die Berechtigung, ihn wieder hervorzuholen.
Volker Reinhardt übernimmt das auf gut 600 Seiten umfassend in acht Großkapiteln (übersichtlich unterteilt) und Einleitung plus Epilog, dazu sehr viele Zitate, gut sichtbar vom Fließtext abgehoben. Man ist erfreut über Bebilderungen im Text, die die Lektüre nicht nur illustrieren, sondern auch auflockern, und besonders dankbar, dass es im Anhang nicht nur Anmerkungen und Literaturverzeichnis und Register gibt, sondern auch eine Zeittafel.
François-Marie Arouet also, geboren am 21. November 1694 in Paris, gestorben am 30. Mai 1778 ebenda, ein „Monument der Aufklärung“, wie man später urteilte. Aber bevor es so weit ist, ist da ein Leben. Wo kommt man her, wie geht man seine Wege, wie wird man Voltaire? Und die anschließende Frage: Wer war Voltaire?
Wie fasst man jemanden, der so unendlich viel gedacht und unendlich viel geschrieben hat, Divergierendes, Extremes (im Theater von blutrünstiger Tragödie bis heiteren Sketch), einer, der meinte, sich in über 20.000 Briefen mitteilen zu müssen – hat sich der nicht eher versteckt als gezeigt? Fragen, die man sich angesichts dieser flirrenden, sich scheinbar absichtlich in einen Vexierspiegel verwandelnden Persönlichkeit oft gestellt hat.
Zurück zu den Fakten, zur Biographie. Das erste Kapitel umfasst die ersten 24 Jahre und damit jene Zeit, in der aus dem jungen François-Marie Arouet selbst gewählt „Voltaire“ wurde, die Gestalt, als der er sich sehen wollte – der unermüdlich schreibende, argumentierende, attackierende, kämpfende Zeitgenosse, der nebenbei in der Folge durchaus versuchte, auf dem Theater Erfolg zu haben und durchaus zu Geld und Ansehen zu kommen.
Wenn man die Mächtigen (Hof und Kirche) gleichzeitig attackierte, glich das einer Achterbahn, und es verwundert nicht, dass er nicht nur fast ein Jahr in der Bastille einsaß, sondern viele Jahre seines Lebens außerhalb Frankreichs verbrachte – in England, in Potsdam, in der Schweiz. Dazu kommen die vielen Jahre mit der Mathematikerin Emilie du Charelet auf Schloß Cirey und die Altersjahre als Herr von Ferney, dem Landsitz am Genfer See, zwar noch in Frankreich, aber nahe genug an der Schweiz, falls es in seinem Heimatland wieder einmal brenzlig für ihn werden sollte. Hier ordnet die Biographie die Kapitel der „zerfransten“ Biographie möglichst nach den Aufenthaltsorten.
Dass „Aufklärung“ den Kampf gegen die Katholische Kirche bedeutete, das begleitet Voltaire lebenslang. Die erste Antipathie gegen die Institution gewann er in seinen Schülerjahren bei den Jesuiten (wo er später behauptete, auch sexuell missbraucht worden zu sein). Sie brachten ihm Latein bei und haben sicher einiges für seine Bildung getan, errichteten gegen ihre Schüler aber ein absolutistisches System, dem er in der Kirche immer wieder begegnete – und das er bis zu seinem Lebensende bekämpfte. Schießlich schickte er zuletzt den Priester weg, mit der Bemerkung, er solle ihn in Ruhe sterben lassen…
Aber es war auch ein Leben, das sich durchlavierte, da beschönigt der Autor gar nichts. Nicht seine waghalsigen Geldgeschäfte, die ihn zwischen Reichtum und Armut hielten (Geschäfte mit einem jüdischen Bankier in Potsdam trugen ihm die Mißbilligung des preußischen Königs ein). Nicht seine Frauengeschichten, die vielen älteren Damen der Frühzeit, die junge Nichte der Spätzeit, der er noch als Sechzigjähriger schwängerte. Nicht die vielen Fehden, politisch (mit dem Hof, Ablehnung und Annäherungen, manchmal fast opportunistisch), mit literarischen Gegnern (Rousseau).
Was das Kapitel bei Friedrich II. betrifft, so stellt Reinhardt nicht nur klar, dass dies aus französischer Sicht ganz anders gesehen wird als aus deutscher, er räumt auch ein, dass Voltaires Aufenthalt in Preußen (mit dem Deutschen befreundete er sich nie) eigentlich nur kurzfristig für beide Beteiligte angenehm war, und dass sich König und Philosoph in dieser legendären Beziehung nicht unbedingt von ihrer besten Seite gezeigt haben…
Dieses so „verwinkelte“ Leben ist schwer zu erzählen, wobei immer sein – gelinde gesagt – buntes Schaffen parallel läuft. Dass er nicht Jurist werden wollte, wie der Vater es vorgesehen hatte, sondern ein „Homme des lettres“, das war dem jungen Arouet schon in frühen Jahren klar. Wie er den Namen „Voltaire“ für sich erfand (womit er sich auch vom Vater abkoppeln wollte), ist nicht ausreichend zu erklären. Was sein Schreiben betrifft, so ist der Autor am ausführlichsten bezüglich seiner Theaterstücke, die oft seitenlang geschildert und analysiert werden. Manches andere scheint auch ausführlicher behandelt , als es für den Leser interessant und von Nutzen ist. Doch dass ein Autor die Gelegenheit benützt, einfach alles einzubringen, was er weiß, muss man auch akzeptieren.
Im Endeffekt ist da von wilden Jugendjahren an bis zu ungebrochen sturem Alter eine höchst schillernde Person entstanden. Moralisch sicher nicht einwandfrei, auch als Denker gelegentlich versatil, was bei 84 Lebensjahren logisch ist, aber einer, der nie aufgehört hat zu kämpfen, vor allem gegen politische Mißstände.
Womit sich dann letztlich auch die Frage „Warum Voltaire?“ beantwortet.
Renate Wagner