Volker Reinhardt:
LEONARDO DA VINCI
Das Auge der Welt
Biographie
384 Seiten, Verlag C.H.Beck, 2018
2019 ist das Leonardo-Jahr, ein halbes Jahrtausend ist einfach eine zu runde Zahl. (Da werden Bruegel und Rembrandt, wenngleich ähnlich berühmt, mit ihren halbrunden Jubiläen nicht mithalten können.) Nun kann man ja nicht sagen, dass Leonardo da Vinci (1452-1519) in unserer Zeit keine ausreichende Beachtung gefunden hätte. Der Mann war und ist, wie sein jüngster Biograph, Viktor Reinhardt, Professor an der Universität Fribourg, schon im Vorwort darlegt, immer Faszinosum und Irritation zugleich. Für die Mitwelt und seither konsequent für die Nachwelt.
Der Schöpfer der „Mona Lisa“, des berühmtesten Gemälde der Welt, des legendären „Letzten Abendmahls“ in der Mailänder Kirche Santa Maria delle Grazie, ingeniöser Zeichner, dessen technische „Erfindungen“ seither unzählige Male publiziert wurden (obwohl der Normalmensch durch deren Kompliziertheit nicht durchsteigt) – ein typischer Mensch der Renaissance, der alles über die Welt wissen wollte und mit seinem vorwärts gerichteten Blick weder mit der etablierten Gesellschaft, noch der Kirche oder den Esoterikern seiner Zeit etwas anzufangen wusste. Ein Rebell nach unserem Geschmack, aber ein Mann, der – wie dieser sein Biograph immer betont – stark an seinem eigenen Image gearbeitet hat…
Und einer, der heute in einem Netz von Klischees gefangen ist. Vielleicht sollte man das letzte Kapitel von Reinhardts Buch zuerst lesen, um zu sehen, wie viele „Leonardos“ in der Vorstellungswelt herumschwirren, eines Mannes, der sich zu Lebzeiten jegliche Beachtung gesichert hat und doch bald nach seinem Tod vergessen war. Die Kunstwelt war damals auch zu reich an großen Persönlichkeiten… Immerhin wurde auch Leonardo in den Künstlerbiographien von Giorgio Vasari (1511-1574) posthum ausführlich behandelt, und dabei blies ihm, wie der Autor dargelegt, scharfer Wind ins Gesicht: Denn Vasari hatte gar nichts für Leonardo übrig und interpretierte alle Taten und Fakten seines Lebens negativ…
Nach und nach rückte sich das Bild des Künstlers zurecht, wobei der Ruhm der Mona Lisa noch auf sich warten ließ, man erst den Philosophen Leonardo bewunderte, im 18. Jahrhundert lag er als Maler weit abgeschlagen hinter Raffael, zu Beginn des 19. jedoch begann man, ihn als ersten und gleich größten Naturforscher zu betrachten. Goethes Bewunderung für das „Letzte Abendmahl“ in Mailand machte Leonardo zum Bildungsgut des deutschen Bürgertums. In Frankreich war es Stendhal, dessen Bewunderung Leonardo näher brachte, und als man die Epoche der „Renaissance“ erfand, erfüllte Leonardo schnell die Funktion des „Universalgenies“ dieser Welt. Darüber hinaus wurde er als esoterische Figur mit großem geheimen Wissen dämonisiert (das reicht bis zu den Romanen von Dan Brown), Sigmund Freud versuchte Leonardos Homosexualität zu erklären, und in unserer Welt ist er einfach fraglos ein „Superstar“ geworden. Als solcher geht er durch die Medien… und die Frage, wer er wirklich war, ist auch ein halbes Jahrtausend nach seinem Tod nicht beantwortet.
Volker Reinhardt sucht den „echten Menschen“ Leonardo, wie er lebte, wie er dachte, wie er arbeitete, wobei er verspricht, neue Wege der Betrachtung zu beschreiten und vor allem „belastbare Quellen“ (also Dokumentarisches) zu befragen – und Leonardos Texte selbtst. Nüchtern und quellennah Leonardo in seiner Zeit begreifen – das ist der Ansatzpunkt für eine chronologische Erzählung eines Lebens, das von einem sperrigen Charakter handelt.
Als uneheliches Kind am Land aufgewachsen, gab man ihn, der immer schon zeichnete, nach Florenz zu Andrea del Verrocchio in die Lehre. Damit beginnt ein Leben, das man als „vazierendes“ bezeichnen kann, das ihn in seiner Welt regelrecht herumtrieb. Dabei wird klar, wie unendlich wichtig der historische Hintergrund ist, der Leonardos Aufenthaltsorte schließlich bestimmt hatte. Die Fürsten der vielen italienischen Stadtstaaten – die Medici, die Sforza, die Este und viele mehr – definierten sich nicht nur durch ihre Kriege, sondern auch durch ihre Künstler, denen viele Aufgaben zukamen – und Leonardo konnte viele erfüllen. Vielleicht nicht das Bedürfnis nach großen Statuen zum Erinnerungskult und repräsentativen Großgemälden für Paläste und offizielle Bauten (Leonardo war berüchtigt, Aufträge anzunehmen und letztendlich doch nicht auszuführen), man brauchte Allround-Künstler auch als Festarrangeuere (da erwarb er sich großen Ruf), als Kartenzeichner (sonst konnte man nicht erfolgreich Krieg führen), als Architekten ebenso für Flussregulierungen wie für Bauten, als Techniker, die u.a. Waffen entwarfen… und als Künstler. Leonardo konnte alles, und außerdem noch die Geliebten seiner Fürsten malen oder die geforderte religiöse Kunst schaffen (wenngleich er seine Mitwelt irritierte, wenn sein Jesuskind dem Lamm glatt das Genick bricht…).
Über die Medici in Florenz kam er nach Rom, als ein Sohn von Lorenzo de’ Medici als Leo X. Papst wurde und die Florentiner zu den neuen Fleischtöpfen zogen. Von Mailand, wo er für die Sforza arbeitete, kam er schließlich nach Frankreich zu König Franz I., der Mailand erobert hatte. Er verbrachte einen angenehmen Lebensabend bei Schloß Amboise an der Loire, wo er auch begraben ist.
Viktor Reinhardt erzählt dieses Leben unpathetisch, aber ausführlich, wobei ihm nicht nur die Umwelt wesentlich ist, in der Leonardo sich befand, sondern auch die geistige Welt, in der er lebte – nur, indem man schildert, was er vorfand, kann man seine Leistung darin ermessen, wie er darüber hinaus ging. In einer Epoche, wo die Menschen meinten, alles zu wissen (und sich auf den Glauben der Kirche zu verlassen), war Leonardo klar, dass man nichts wusste – und er konnte nicht genug daran tun, die Natur zu erforschen. Als Vegetarier und das, was man in unserem Sinn als „Ökologen“ betrachten kann, war Leonardo seiner Zeit weit voraus und uns verwandt.
Wie ungewöhnlich sein künstlerisches Werk ist, in den „abweichenden“ Akzenten der religiösen Motive, in seiner Darstellung von Frauen, erfährt ausführliche Betrachtung – auch wenn man zur „Mona Lisa“ nicht Definitives sagen kann. Immerhin durchforstet der Autor die überlieferte Literatur bis ins Detail. Und er zweifelt nicht nur daran, dass die berühmte Rötel-Zeichnung eines alten Mannes ein „echtes“ Selbstbildnis Leonardos ist… er kann den arabischen Käufern, die für das „Salvator Mundi“-Gemälde 450 Millionen Dollar bezahlt haben, nicht bestätigen, dass sie wirklich einen „echten Leonardo“ besitzen…
Bei einem Künstler wie Leonardo ist es wichtiger als in anderen Biographien, dass farbige Bilder das Buch begleiten, dass man sehen kann, wovon geschrieben wird, denn keine Beschreibung ersetzt den eigenen Eindruck, den man von einem Kunstwerk gewinnt. Das ist zweifellos auch eine Stärke des Buchs, hier die richtigen Abbildungen an richtiger Stelle einzufügen. Und auf Leonardo nüchtern zu blicken – was diesen interessanten, seltsamen Mann nicht kleiner macht.
Renate Wagner