Volker Reinhardt
DIE MACHT DER SEUCHE
Wie die Große Pest die Welt veränderte 1347-1353
256 Seiten, Verlag C.H.Beck, 2022
Noch vor zwei Jahren hätte sich vermutlich niemand vorstellen können, dass die ganze Welt von einer „Seuche“ heimgesucht werden würde, die das Leben aller Menschen empfindlich veränderte. Dennoch ist genau das eingetreten – ist aber, so sehr man überrumpelt wurde, in der Geschichte der Menschheit nichts Neues. Was kann man in diesem Fall aus der Vergangenheit lernen?
Volker Reinhardt, Professor für Geschichte an der Universität Fribourg, hat das Buch zur Stunde geschrieben, wenn er die „Große Pest“ der Jahre 1347-1353 in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellt. Wobei er selbst immer wieder die Bezüge zum Heute herstellt und auch aus der Distanz von sieben Jahrhunderten, zwischen dem 14. und dem 21., jede Menge Parallelen entdeckt.
Die Pest, die damals mit genuesischen Schiffen im sizilianischen Hafen von Messina in Europa „von Bord“ ging, war für die Menschen – wie Corona für uns – eine völlig neue Erfahrung. Man wusste also auf Anhieb keinesfalls, wie man damit umgehen sollte. Man hatte kein Heilmittel – aber Ängste, Spekulationen und Beschuldigungen machten die Runde, so schnell es möglich war.
Da finden sich aber auch schon die Unterschiede: Im 14. Jahrhundert gab es selbst in dicht besiedelten Städten, die natürlich besonders betroffen waren, keine anderen Kommunikationsmittel als öffentliche Bekanntmachungen auf der Straße, von den Kirchenkanzeln herab und die Information von Mund zu Mund. Und es dauerte, bis Wissen weiter getragen wurde. Heute ist eine Nachricht gewissermaßen in Minutenschnelle um die Welt und kann in einer Welt, wo News von Fake News nicht mehr zu unterscheiden sind, Verheerendes anrichten.
Wobei der Autor an vielen Beispielen klar macht, dass es Schuldzuweisungen auch im Mittelalter gab und dass es, wie meist, die Juden waren, denen man zuschrieb, die Seuche (u.a. mit dem absichtlichen Verschmutzen des Wasers) über die Christenwelt gebracht zu haben. Das war einfacher, als sich mit den Begründungen zu begnügen, es sei Gottes Strafe für seine zügellose Menschheit (oder, wenn das zu scharf wirkte, einfach „Gottes unerforschlicher Wille“). Eine säkulare Welt wie die unsere muss sich hingegen mit Verschwörungstheorien zufrieden geben.
Ein gewaltiger Unterschied zwischen einst und jetzt besteht auch darin, dass im 14. Jahrhundert die wenigsten Menschen, die von der Pest befallen wurden, die Chance hatten, das zu überleben – sie starben meist innerhalb weniger Tage unter schrecklichen Qualen. Damals wurde die Bevölkerung von Städten in gewaltigem Ausmaß reduziert (der Autor befasst sich am Ende des Buches auch mit den sozial-ökonomischen Folgen, nämlich den Gewinnen der erbenden und in Leerstellen eintretenden Überlebenden).
Heute hingegen sind die letalen Fälle in der Minderheit, man hat sich sogar jüngst mehr und mehr entschlossen, die Pandemie auf eine etwas unangenehmere Verkühlungskrankheit hinunter zu stufen (was nicht für jene gilt, die auf den Intensivstationen zumindest vor dem Ersticken bewahrt werden). Auch hat unsere Welt zumindest an Impfstoffen und (demnächst hoffentlich) an Medikamenten zur Bekämpfung der Krankheit gearbeitet, während man während der „Großen Pest“ und allen anderen Pest-Epidemien, die ihr folgten, ratlos blieb, wie dagegen vorzugehen sei. Das Prestige der Ärzte ist in dieser Zeit nicht eben gewachsen.
Die Ursachenforschung kam im Mittelalter zu keinem Ergebnis, aber tatsächlich hat man erst im 19. Jahrhundert heraus gefunden, was die Pest, die aus Zentralasien kam (und die genuesischen Schiffe aus dem östlichen Mittelmeer), ausgelöst hatte: Es waren infizierte Flöhe, die von infizierten Ratten kamen und die Krankheit mühelos auf die Menschen übertrugen. Ausgangspunkt war übrigens, wie man nach Erkenntnissen meint, China – das ja auch heute unter Verdacht steht, das Corona-Virus verbreitet zu haben. Wie es dazu kam, weiß man allerdings heute so wenig verlässlich zu beantworten wie damals.
Der Autor behandelt die „Große Pest“ nun in drei Schwerpunkt-Kapiteln. Zuerst verfolgt er ihren Weg, den sie durch Europa nahm – die infizierten Flöhe saßen in den Kleidungen der Reisenden und kamen überall hin, Ratten gab es auch allerorten. Von Italien aus fiel die Pest über Europa herein. Im zweiten Schwerpunktkapitel erfährt man, wie die Menschen auf die Pest reagierten.
Das krudeste Beispiel dessen, was wir „Lockdown“ nennen würden, lieferte Luchino Visconti (nicht der Filmregisseur, sondern der damalige Herzog von Mailand): In der richtigen Erkenntnis, dass es wohl Menschen waren, die einander ansteckten (wenn es auch über die Flöhe geschah), ließ er drei betroffene Familien in ihre Häuser einmauern und ging noch weiter, indem man sie verhungern ließ. Tatsächlich hat er, heißt es, seine Stadt dadurch vor der Pest bewahrt. Der „Fall Mailand“ beweist den Erfolg von brutal-radikalen Maßnahmen (in einem Ausmaß, wie sich die Gegenwart glücklicherweise noch nicht dazu entschieden hat).
Freiwillig zurück zog sich der (schon früher) nach Avignion übersiedelte Papst Clemens VI. zurück, der sich bei großer Hitze in seinen Gemächern einschloß, bis die Pest vorbei war (und er sich als ihr Überwinder loben lassen konnte).
In der Literatur gibt es die „Pestberichte“ von Menschen, die entweder nicht befallen wurden oder überlebten: Als kritischer Leser historischer Dokumente macht der Autor klar, dass natürlich um der Wirkung willen vieles übertrieben wurde. Aber dass die Welt aus den Fugen geraten war, dass das menschliche Leben durch die Seuche grundlegend verändert wurde, das wird stets klar. Als berühmtestes literarisches Beispiel einer – am Rande – „pest“-bezogenen Literatur gilt übrigens die Novellensammlung „Il decamerone“ von Boccaccio. Denn er lässt zehn junge Adelige aus Florenz vor der Pest aufs Land fliehen, wo sie sich die Zeit mit jenen hundert Erzählungen vertreiben, die Weltliteratur geworden sind…
Dass es, wie erwähnt, immer wieder zu Judenpogromen kam (ein besonders schlimmes in Würzburg), stellt der Autor durchaus in den realen Zusammenhang: Erstens suchte man Sündenböcke, zweitens war das reale wirtschaftliche Interesse an der Eliminierung der Juden groß – Kredite, die man nicht zurückzahlen musste, Vermögen, auf die nicht zuletzt die Kirche ein begehrliches Auge warf. Warum Judenverfolgungen in Deutschland so heftig und blutig ausfielen, es sie in Italien hingegen (bei einem ähnlichen jüdischen Bevölkerungsanteil) so gut wie nicht gab – diese Frage kann der Autor (wie viele andere der Wissenschaftler-Zunft) nur stellen, aber nicht wirklich beantworten.
Das dritte Kapitel behandelt dann die Folgen der Pest. Heute lebt die Welt in der Hoffnung, die Pandemie, die als Corona bzw. Covid 19 die ganze Welt beeinträchtig hat, nach zwei Jahren hinter sich gebracht zu haben. Die Erfahrungen aus der Geschichte wissen es besser. Erstens sind Pest-Epidemien durch die kommenden Jahrhunderte hindurch in ganz Europa wieder und wieder gekommen. Und die Hoffnung auf den danach gebesserten, geläuterten Menschen hat sich nie erfüllt. Da sieht der Autor auch für unsere Zeit pessimistisch in die Zukunft – wer solche Überlegungen anstellt, meint er, ergeht sich in „intellektueller Prunkrhetorik“ ohne jeden realen Hintergrund. Am Beispiel einer Aufsteigergeschichte nach der Pest formuliert der Autor: „Die Pest hatte vielen Menschen die Augen geöffnet und den Blick auf den Menschen geschärft, und was sich zeigte, war kein Ebenbild Gottes, sondern ein Abgrund an List, Eigennutz und Zerstörungslust…“
So können wir, das macht dieses hoch interessante Buch klar, aus der Geschichte nur lernen, dass wir eigentlich nichts lernen können und jede Situation stets von neuem bewältigen müssen. Wie die Menschen im 14. Jahrhundert.
Renate Wagner