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Volker Leppin: RUHEN IN GOTT

16.10.2021 | buch, CD/DVD/BUCH/Apps

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Volker Leppin:  
RUHEN IN GOTT
Eine Geschichte der christlichen Mystik
480 Seiten, Verlag C.H.Beck, 2021

Religiöse Mystik ist ein diffuser, weil allzu vielfältiger Begriff. Was „Mystiker“ in ihrer Gottsuche und –findung erleben, ist schwer nachzuvollziehen. Historisch ist das Thema allerdings ausführlich zu behandeln. Wie dieses „Ruhen in Gott“ zu verstehen ist, wie es real gelebt wurde und welche Folgen es hatte, versucht nun ein Buch aufzuschlüsseln. Volker Leppin, der Kirchengeschichte in Tübingen und Yale lehrte und lehrt, möchte dem Phänomen in zahlreichen Beispielen nahezukommen, die auch einen wichtigen Teil der Geschichte des Christentums streifen, ja, dessen geistige Entwicklung nachzeichnen.

Der Autor geht chronologisch und übersichtlich am Beispiel vieler Einzelschicksale vor, unter denen sich berühmte Namen finden, aber es ist auch ein hoch komplexes Theoriengeflecht, das sich da entwickelt. Denn kein Mystiker stand für sich selbst, und die Reflexion auf seine Behauptungen konnte von Anhängerschaft bis zu dezidierter Feindschaft reichen. Denn wenn sich Mystiker nach eigener Aussage direkt mit Gott verbanden, brauchten sie keine Religion oder Kirche für diesen Kontakt und konnten als gefährliche Abweichler betrachtet werden. Dabei handelte es sich nicht nur um persönliche Entrückung, sondern um hunderte, ja tausende individuelle Zugänge des Menschen zu Gott, die niedergeschrieben und weiter gegeben wurden.

Über die Jahrhunderte geht es also interpretatorisch auch darum, das Phänomen der Mystik in die theologische Theorie und kirchengeschichtliche Praxis einzubauen, wobei die Klöster in diesem Bereich eine besonders Rolle spielten.  Dazu bietet das Buch eine Fülle großer Namen der Kirchengeschichte, die an dieses spezielle Thema angekoppelt werden: Paulus, Simon Magus, Valentinius, Gregor von Nyssia, Aurelius Augustinus, Benedikt von Nursia,  Gregor der Große, Bernhard von Clairvaux,Thomas von Aquin, Franz von Assisi, Nikolaus von Kues, Joihannes Reuchlin, Meister Eckhart, Martin Luther, Ignatius von Loyola, Johannes vom Kreuz und andere. An bedeutenden Frauen wie Birgitta von Schweden und Katharina von Siena kann auch gezeigt werden, dass Mystikerinnen politischen Einfluß besaßen. 

Überhaupt findet man besonders interessante Aspekte in der Rolle, die die Frauen in diesem Zusammenhang spielten, wobei eine Adelige wie Hildegard von  Bingen mit ihren Visionen zwar befremdete, aber nicht so weit aneckte wie die Französin Marguerite Porete, die dem Laienorden der Beginen angehörte (der der Kirche ins Auge stach) und auf die Idee kam, die menschliche Seele könnte sich in die Dreifaltigkeit hinein begeben. Das war der Männerwelt dann doch zu blasphemisch, und 1310 landete sie auf dem Scheiterhaufen. Später musste auch Teresa von Avila sowohl ihrer jüdischen Abstammung wie ihrer Mystik wegen stets der Spanischen Inquisition gewärtig sein… (Vielleicht hätte auch Jeanne d’Arc in ein Buch wie dieses gehört, deren „Erscheinungen“ zum Thema gepasst hätten und bei der man den Konnex zwischen religiösem und politischem Anspruch hätte darstellen können.)

Es waren auch die Frauen, bei denen mystische Vereinigung mit Gott bzw. Jesus Christus durchaus sexuelle Konnotation erhalten konnte. Was nicht heißt, dass nicht auch männliche Mystiker etwa bei der „Kreuzminne“ angesichts des toten Jesus am Kreuz in Ekstase geraten konnten. (Vielleicht sollte es neben der historischen auch einmal eine psychologische Betrachtungsweise dieser Erscheinungen geben…)

Im Lauf der Jahrhunderte kippte die Mystik, die keine rein katholische Erscheinung war (die jüdische Kabbala war voll davon), in bürgerlichen Zeitaltern ins Modische. Sie inspirierte nicht nur Musik und Dichtung, sondern kam auch mit religiösen Bewegungen (wie den Quäkern) auf den amerikanischen Kontinent. Und so, wie in den frühen Zeiten die religiösen Fragen und Probleme eng mit der aus der Antike überlieferten Philosophie verbunden gewesen waren, so nahm sich in der Neuzeit wiederum die Philosophie der religionsgeschichtlichen Themen an.

Dass man den Begriff Mystik auch politisch verwenden (missbrauchen) kann, zeigte sich im Nationalsozialismus. Da war Alfred Rosenberg, der 1930 in seinem Buch „Mythos des 20. Jahrhunderts“ aus Rasse,  Blut, nordischem Wesen einen eigenen Mystik-Mythos mit religiösem Tremolo schnürte.

An das Ende stellt Volker Leppin den Ausspruch von Karl Rahmer, die Frommen von morgen müssten Mystiker sein, denn konventionelle religiöse Erziehung führe als „Dressur“ nicht zum wahren Glauben…

Historisch steht fest, dass das „Ruhen in Gott“ so gut wie immer Unruhen in der Kirche nach sich zog. Das ist gewiß ein Buch, das spezielles Sonderinteresse an dem Thema fordert, bringt man dieses aber mit, wird man mit einer schier unglaublichen Fülle von Informationen bedient.

Renate Wagner

 

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