Thomas Voigt / Christine Cerletti
VOICES
Prägende Musik- und Theatererlebnisse
336 Seiten. Großformat, erlag für moderne Kunst, 2022
Sänger von heute, Sänger von gestern: Opernfreunde lesen notorisch gerne über Sänger, jene Künstler, die ihnen vor allem die Opernabende schenken (ungeachtet der Preise, die man dafür zahlen muss). Der großformatige Band „Voices“ bietet nun „Prägende Musik- und Theatererlebnisse“, erzählt von Sängern selbst, von alphabetisch dem jungen Rossini-Tenor Michel Angelini bis zur gegenwärtigen Star-Diva der Met, Sonya Yoncheva. Nebenbei sind auch Dirigenten, Regisseure, Intendanten, Instrumentalsolisten unter den Befragten. Aber es geht vor allem um die Sänger.
Für die Präsentation zu Beginn des Jahres gab es keinen geringeren Ort als die Wiener Staatsoper, denn Autor / Herausgeber Thomas Vogt, lebenslang in der Welt der klassischen Musik unterwegs, bietet wirklich nur die größten Namen. Recherchiert in der Vergangenheit, mit Live-Gesprächen mit Künstlern der Gegenwart, wobei der Autor seine Interview-Partner in Ich-Form erzählen lässt, was sich als entscheidender Kunstgriff des Buches herausstellt.
Voigt und Co-Autorin Christine Cerletti (eine Schweizer Sängerin und Malerin) haben die meisten Künstler, wie man liest, in den Jahren der Pandemie aufgesucht und erzählen lassen Dazu gibt es Grundsatzartikel von Elke Heidenreich und Jürgen Kesting, und historisch geht man in einem kurzen Abriß bis zur „Stunde Null“, dem Jahr 1945, zurück, als alles neu begann – eine geraffte Chronik der Ereignisse in der Welt steht da am Beginn. Und immer wieder schieben sich (auf schwarzem Grund, die Herrschaften sind schließlich tot) kurze Huldigungen an Ikonen der Vergangenheit dazwischen, von Callas bis Pavarotti, Toscanini bis Bernstein (Karajan hat man allerdings ausgelassen…).
Den Hauptanteil des Buches machen die Porträts aus, die Reihung ist nicht immer einsichtig, aber man blättert sich ohnedies durch den Band und wird immer dort hängen bleiben, wo das persönliche Interesse am größten ist – für Wiener Fans gewiss gleich beim ersten Artikel über Christa Ludwig., die eher von Rollen spricht, während Anja Silja die Regisseure in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellt. Es geht auch um ganz individuelle Empfindungen: „Nicht ich singe, es singt aus mir“, sagt Brigitte Fassbaender. Cecilia Bartoli betont, wie wichtig es ist, im Lauf seiner Karriere den richtigen Menschen zu begegnen, Ferruccio Furlanetto erinnert sich an sein Einspringen in „Don Carlo“ für Karajan, manche Beiträge sind kürzer (Simon Keenlyside), andere ausführlicher und tiefer schürfend.
Vor allem aber ist das Warum und Wie von Werdegängen das Thema – „Sänger“ zu werden, ist nicht irgendeine Entscheidung. Neben der von Gott hoffentlich gegebenen Stimme (im übrigen half es, wenn man wie so mancher der Befragten aus Familien kam, wo Musik Bestandteil des Lebens war) muss man unendliche Arbeit und Ausdauer in die Erlernung des Handwerks legen. Dazu braucht es vielfach die körperliche Kraft eines Leistungssportlers. Und dann muss man auch noch die Fähigkeit besitzen, sich in einer Opernwelt durchzusetzen, die es Anfängern nicht leicht macht – und Stars noch weniger, die ab einem gewissen Level ständiger und durchaus nicht nur positiver Beobachtung ausgesetzt sind – von der heißen Liebe der Fans einmal abgesehen.
Fast alle großen Sängernamen von heute sind vertreten, auch Dirigenten (von Pappano bis Thielemann), Regisseure, Intendanten (von Holender bis Roscic, versteht sich). Mit Johanna Wokalek und Sunnyi Melles haben sich auch Schauspielerinnen hierher verirrt, mit Dagmer Koller ein Musical-Star.
Natürlich registriert man auch, wer da nicht auftaucht – Daniel Barenboim war vielleicht zu krank für ein Interview, aber dass mit Anna Netrebko und Placido Domingo zwei zentrale Namen fehlen, erstaunt doch. Schade, dass man auf Gundula Janowitz vergessen hat, sie hätte viel erzählen können. Und René Kollo auch. Aber Lücken finden sich immer.
Im übrigen ist wirklich alles vertreten, was Rang und Namen hat. Durch die „Ich-Erzählung“, die den Künstlern in den Mund gelegt wird (und zweifellos gewissenhaft aus Interviews destilliert ist) erfährt man sehr viel Nahes und teilweise auch Neues über die Sänger. Dazu kommt die durchgehende Bebilderung mit viel auch historischem (und demgemäß oft schwarz-weißem) Material – 440 Fotos sollen es sein (man hat sie nicht gezählt, man glaubt es gern), auch das ist für den Betrachter eine Straße der Erinnerung in die beglückenden Augenblicke der Oper.
Renate Wagner