VINYL DEUTSCHE GRAMMOPHON „THE ORIGINAL SOURCE“: CHOPIN Polonaises Nos. 1–7 mit MAURIZIO POLLINI; MESSIAEN Quatuor pour la Fin du Temps mit DANIEL BARENBOIM
Kult sind sie inzwischen geworden bei Sammlern und Liebhabern audiophiler Tonträger: Die vom Gelblabel initiierte Reihe von Neuauflagen künstlerisch legendärer Analog-Aufnahmen der 1970er Jahre mit dem passenden Titel Original Source. Denn für die nun auf bestem 180g Virgin Vinyl gepressten LPs haben die Emil Berliner Studios auf die originären Quellen zurückgegriffen. Diese Vier- und Achtspur-Bänder (eh. Quadrophonie) wurden von Rainer Maillard und Sidney Meyer neu gemastert und geschnitten. Klanglich sind die neuen limitierten und nummerierten LPs den ursprünglichen Veröffentlichungen haushoch überlegen. Ich habe mich selber schon des Öfteren davon überzeugen können. Das Artwork der Cover, die Begleittexte entsprechen den Originalen, Fotos, Faksimiles der Aufnahmeprotokolle und Bandkartons ergänzen das luxuriöse Setting. Kein Wunder bei der Qualität, dass etliche der früheren Publikationen der Reihe schon längst vergriffen sind.
Die jüngste Tranche wartet unter anderen mit der berühmten Aufnahme der Polonaises Op. 26, Nr. 1, 2; Op. 40, Nr. 1, 2; Opp. 44, 53 und 61 von Frédéric Chopin mit Maurizio Pollini aus dem Jahr 1976 auf. Die Produktion ging offenbar nicht friktionsfrei vonstatten, denn der Aufnahmeleiter Rainer Brock musste auf Intervention des Pianisten jedenfalls nachschneiden.
Über Pollinis Chopin- Frühstil bezogen auf die „Polonaises“ ist viel geschrieben worden. Von analytisch, formbedacht, auf das Wesentliche beschränkt bis heroisch gehen die Zuschreibungen. Also sachlich oder distant-kalkuliert ist Pollinis Chopin Zugang keinesfalls. Vielmehr interessieren Pollini als einem der wenigen mir bekannten Interpreten weniger das vermeintlich primär Romantische oder Elegante der Vorlagen, sondern der Italiener spürt hinter den Rhythmen die Lava der Musik auf dem scheinbar ruhigen Vulkan nach. Dass er diese – Poetisches wie Elementares umfassenden – Leidenschaften geradlinig fokussiert, mit kristallinem Anschlag und der Präzision eines Uhrwerkes zu entfachen vermag, ist eines der großen pianistischen Wunder der Schallplattengeschichte.
Gewiss ist Pollinis Spiel unsentimental, aber aus welchem Grund soll diesen Partituren noch etwas „Gefühliges“ hinzugefügt werden, wenn ohnedies schon alles in den Noten steht. Pollini reduziert ja nicht die Musik, sondern nur das Zusätzliche, mit dem andere Pianisten die Polonaisen auffetten wollen. Es ging Pollini nachvollziehbar um den richtigen Grad an Dramatik, an titanischer Kraft (diese darf ja nicht nur Beethoven erlaubt sein) und wohl dosiertem Tastenzauber. Einem von etlichen als parfümiert denunzierten Komponisten wird man hier nicht begegnen.
Die Aufnahme besticht durch das dynamisch gerade noch Machbare, kühn erprobte Rubati und die Gestattungsfantasie eines musikalischen Flusses durch Stromschnellen, entlang felsiger Wände und über granitenem Untergrund, durchwoben von glänzendem Flackern und mannigfaltigen Spiegelungen. Pollini macht das Rhapsodische, das rubinrote Gespenstische, ja den Dämon hinter und in diesen Polonaisen erfahrbar. Eines ist sicher: Harmlos geht anders.
Welch Temperament und Biss schlägt uns im Allegro con brio, Op. 40, Nr. 1 entgegen, im Allegro maestoso der Polonaise Op. 40, Nr. 2 schreckt Pollini auch vor schroffen und bedrohlichen Hämmern nicht zurück. Im Op. 44, tempo di Mazurka, vermag Pollini wiederum mit einer martialischen Besessenheit zu erschüttern. Das Maestoso Op. 53 erstrahlt in diamantener Härte und ebensolchem Feuer, während die Polonaise Fantaisie Op. 61 in krakenhafter Unberechenbarkeit wirbelt.
Mein persönliches Fazit: Ein Koh-i-Noor der Chopin Diskografie!
Technischer Hinweis: Die Aufnahme wurde in 45 rpm (rotations per minute), also mit 45 Umdrehungen pro Minute geschnitten, einem Format, das früher Singles reserviert war und heute verwendet wird, um höchsten audiophilen Ansprüchen zu genügen. Ihr Equipment sollte also außer den üblichen LPs in 33 rpm auch für diese Geschwindigkeit geeignet sein.
Das zweite ausgewählte Album gehört der vom Komponisten selbst autorisierten Einspielung des schöpfungssymbolisch achtsätzigen Quatuor pour la Fin du Temps aus dem Jahr 1940/41. Es wurde im Beisein von Olivier Messiaen aufgenommen. Luben Yordanoff (Violine), Albert Tétard (Cello), Claude Desurmont (Klarinette) und Daniel Barenboim (Klavier) interpretieren nach den Worten des Tonsetzers diese „Musik, die in den Schlaf wiegt und die singt, die aus neuem Blut besteht, aus sprechenden Gesten, einem unbekannten Duft, einem nicht schlafenden Vogel; Musik aus bunten Kirchenfenstern, ein Wirbel von Komplementärfarben, ein theologischer Regenbogen.“ Es handelt sich um mystisch-katholische Klangimaginationen, schon in dieser frühen Phase partiell inspiriert von Vogelstimmen etwa in der ‚Liturgie de cristal‘ oder im Klarinettensolo ‚Abîme des oiseaux‘.
Dem Quartett liegt ein detailliertes Programm zugrunde, das auf die Geheime Offenbarung des Johannes zurückgeht und vom Ende jeglicher Zeit kündet. „Und ich sah einen andern starken Engel vom Himmel herabkommen, mit einer Wolke bekleidet, und der Regenbogen auf seinem Haupt und sein Antlitz wie die Sonne und seine Füße wie Feuersäulen. […] Und er setzte seinen rechten Fuß auf das Meer und den linken auf die Erde […] Und der Engel, den ich stehen sah auf dem Meer und auf der Erde, hob seine rechte Hand auf zum Himmel und schwor bei dem, der da lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit […]: Es soll hinfort keine Zeit mehr sein, sondern in den Tagen, wenn der siebente Engel seine Stimme erheben und seine Posaune blasen wird, dann ist vollendet das Geheimnis Gottes…“
Die acht Teile „Liturgie de cristal, Vocalise, pour l'Ange qui annonce la fin du temps, Abîme des oiseaux, Intermède, Louange à l’Eternité de Jésus, Danse de la fureur, pour les sept trompettes, Fouillis d’arcs-en-ciel, pour l’Ange qui annonce la fin du temps, Louange à l’Immortalité de Jésus“ sprechen vom Erwachen der Vögel, dem das Ende kündenden Engel und vom Regenbogen, der ihn umhüllt, dem Abgrund, dem göttlichen Wort und der Unsterblichkeit Christie.
Die Uraufführung des kompletten Werkes fand im Lager STALAG VIIIA in Görlitz am 15. Januar 1941 vor ca. 400 Kriegsgefangenen statt, der Komponist saß selbst am Klavier.
Ich finde, diese unglaublich intensive Komposition aus Ganz- und Halbtonskalen ist auch ohne religiöses Programm von ungemeinem Interesse. Das Quatuor belohnt – Konzentration im Hören vorausgesetzt – mit einem klanglichen Universum, das Mensch und Tier, Schöpfung und räumliche Ewigkeit, spirituelle Einkehr, Weite und Auflösung in originellst ausgehorchten Kombinationen aus Geige, Cello, Klarinette und Klavier vorstellt.
Mag man bei Chopin von verschiedenen Überzeugungen, was die Interpretation anlangt, ausgehen, so kann die vorliegende Aufnahme mit den vier großartigen Interpreten als authentisch beglaubigte Referenz betrachtet werden. Daniel Barenboim zeigt hier technisch und musikalisch eindrücklich, dass er als Pianist wahrscheinlich noch bedeutender war als am Pult. Der bulgarische Geiger Luben Yordanoff setzt mit unendlichen Modulationen an rhythmischer Akkuratesse (hören Sie in Anspielung auf das Jüngste Gericht die ‚Danse de la fureur, pour les sept trompettes‘), singendem Ton und adaptierten Strichvarianten den trauernd melancholischen Grundton. Albert Tétard legt all die sonore Wärme und das fiebrige Vibrieren seines Instruments in den Zwiegesang von Cello und Klavier in der ‚Louange à l’Éternité de Jésus‘. Der Klarinettist Claude Desurmont hat mit seinem jazzig flexiblen Spiel Plattengeschichte geschrieben.
Zum jetzt erst erhältlichen audiophilen Klang ist noch zu sagen, dass vor allem die Frequenzen im unteren und mittleren Bereich an Fülle und Körper zugelegt haben. Dass es sich bei diesen handwerklich präzise hergestellten LPs um in jeder Hinsicht einzigartige Produkte ohne störende Verzerrungen, ohne Rauschen, Kompression oder Interferenzen, dafür mit größter Klarheit und nie da gewesenem Detailreichtum handelt, macht sie zu Solitären der Langlebigkeit.
Dr. Ingobert Waltenberger