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Vinyl/CD „FOR ARVO“ – GEORGIJS OSOKIN spielt Klavierstücke von Arvo Pärt; Deutsche Grammophon

16.11.2025 | Allgemein, cd

Vinyl/CD „FOR ARVO“ – GEORGIJS OSOKIN spielt Klavierstücke von Arvo Pärt; Deutsche Grammophon

Hommage an die baltische Klavierkultur anlässlich des 90. Geburtstags von Pärt am 11. September 2025

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Das wichtigste und stilistisch breiteste Arvo Pärt-Album des Jahres kommt nicht von einem Orchester oder einem Chor, sondern von einem jungen lettischen Pianisten. Georgijs Osokins heißt er. Wie Daniil Trifonov studierte er bei Sergei Babayan an der New Yorker Juilliard School (ab 2015). Dieser Guru-Pädagoge ist es auch, der dem jungen Letten, nachdem er beim Internationalen Chopin Klavierwettbewerb den Publikumspreis errungen hatte, das seltene Talent eines „Chopinisten“ attestierte.

Im Mai 2025 hat Osokins einen exklusiven Vertrag mit der Deutschen Grammophon geschlossen. Eine absolute win-win Situation für beide Seiten, hört und durchlebt man das Label-Debüt „For Arvo“. Osokins lässt auf diesem pianistisch wie musikalisch solitären Album die im Schraubstock des 20. Jahrhunderts geschliffenen Facetten des Meisters aus Estland aufblühen. Auf dem Programm stehen nicht nur genuin für das Klavier verfasste Stücke (Sonatina 1, 2 Partita), sondern Osokins trägt mit persönlichen Bearbeitungen von Bekannterem wie „Fratres“, „Pari intervallo“ oder „Fragile e conciliante“ zu einem tieferen Verständnis der formalen Strukturen der Musik von Pärt bei.

Auf einem über 100 Jahre alten blauen Steinway-Flügel realisiert, breitet sich vor uns eine ungeheure Vielfalt an musischen Ideen und Überzeugungen aus. Die reichen von den viel zu wenig bekannten, brillanten sowjet-avantgardistischen Stücken der späten 50-er Jahre bis zu den späteren spirituell durchtränkten Klangvisionen.  

Bei den beiden Sonatinen Op., 1/1 und 1/2 handelt es sich um großartige atonale Miniaturen im neo-klassischen Stil voller vertrackter Rhythmen und (außer des Largos der zweiten Sonatine) in drastisch abgestuften Temporelationen. Verspielt, einfallsreich und keck kommen sie daher, wie es einem jungen Studenten am Tallinner Konservatorium in seinen ersten beiden Jahren seines Studiums geziemt. Dem Pianisten Bruno Lukk gewidmet, eröffnen sich für Osokins perspektivisch weite Felder an pianistischer Bravour und musikalischer Introspektion.

Was bei Osokins sofort auffällt, sind die ungeheure Bandbreite einer kristallin hoch destillierten bis märchenhaft sensitiven Anschlagskunst und das Gespür für musikalisches Timing. Die Kontraste, die dies offenbaren, gibt es reichloch zu bestaunen und sich darin zu verlieren.

Vergleichen Sie etwa „Für Alina“ mit dem „Ukuaru Walzer“ auf der ersten Seite der LP 1 (oder CD) oder die „Variationen zur Gesundung von Arinuschka“ mit dem ‚Allegro‘ der seriellen „Sonatina 1“ auf Seite B von LP 1 und sie tauchen in extrem verschiedene Seiten ein und derselben Künstler-Persönlichkeit, die sich im Laufe der Zeit mehrfach metamorphosiert hat und sich dennoch als Ganzes verständlich mitteilt.

Pärt experimentierte in den Fünfziger und Sechziger Jahren in Tallinn und in Moskau, die Strömungen um Shostakovich und Prokofiev aufgreifend, wohl auch deshalb, um einen eigenständigen wie halbwegs sicheren Platz in den sowjetisch-nationalen Komponistenverbänden zu finden. Über künstlerisch wenig befriedigende Musikcollagen fand Pärt nach dem Eintritt in die Orthodoxe Kirche 1972 nach einer langen schaffenslosen Periode zu einem schlichteren meditativen Stil.

Kompositorisch rankte sich Pärts neues Denken um das Phänomen des Dreiklangs, dessen Einbindung fortan strengen Regeln folgte. Der melodisch in Dur oder Moll gehaltenen variablen Melodien ist stets ein statischer Dreiklang zugeordnet, der darüber wie Glocken nachklingt (Tintinnabuli Technik). Vergänglichkeit versus Ewigkeit sind die beiden zugrunde liegenden Prinzipien, die Pärt zu einem universellen Gedanken zusammenführt. Oder wie der Komponist dies als den ewigen Dualismus von Körper und Geist, von Erde und Himmel erkennt. Dass diese Musik überhaupt nicht wolkenflauschig klingen muss wie in vielen orchestralen Aufnahmen, sondern anrufend bestimmt interpretiert werden kann, beweist Osokins mit seiner epochalen Bearbeitung von „Fratres“.

Was die äußerste Schlichtheit von Stücken wie „Mommy’s Kiss“, „Alina“ oder „Für Anna Maria“ anlangt, so kommt sie nirgendwo intensiver und poetischer zum Ausdruck als unter den sie sanft erfühlenden Händen des Georgijs Osokins. In diese Kategorie fällt auch die Bearbeitung von „Pari Intervallo“, diesem so besonderen Stück, dem Andenken an Pärts Stiefvater gewidmet. Als Motto liegt dem tiefreligiösen Stück ein Bibel-Vers aus dem Paulusbrief an die Römer 14/8 zugrunde: „Denn leben wir, so leben wir dem Herrn, und sterben wir, so sterben wir dem Herrn“.

Als Widerthese befasst sich die scharfschnittige „Partita Op. 2“ (1958), als polyphone Denkfabrik mit der zeitgenössischen Anverwandlung barocker Formensprachen. Dialogisierend stehen die Vortragszeichen ‚attacca‘ von ‚Toccatina‘ und ‚Larghetto‘ den Sätzen ‚Fughetta‘ und ‚Ostinato‘ gegenüber. Und genau diese scheinbar sperrigen Kämpfe um Ausdruck sind es, die für mich das Verständnis Pärts gegenüber erst eröffnen und begründen, Pärt als Suchenden und nicht priesterähnlich Vollendeten ausweisen. Als ferne Parallele fällt mir Picasso ein, der zuerst in klassischer Malerei reüssierte und sie beherrschte, bevor er sich seine eigene, nicht minder markenklare Sicht auf die Welt schuf.

In „Hymn to a great City“ für zwei Klaviere geschrieben, hier beide von Osokins gespielt, ist den emigrierten Esten Miriam und Bill Miesse gewidmet, die den Komponisten während seines US-Aufenthalts in New York bei sich aufnahmen. Das Stück, 1984 entstanden, erklingt hier in der Version von 2004.

Mit Für Alina – Version 2 endet ein Album, das die Größe und Entwicklung von Arvo Pärt nachzeichnet und die Ausschnitte ineinander verwebt wie kein zweites, in traurig verhangener Nachdenklichkeit.

Fazit: Das vielseitigste und musikalisch liebevollste Album zum Pärt-Jahr 2025. Mit diesem Album katapultiert sich Osokins in die allererste Reihe pianistischer Alchemisten.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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