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VINYL: Arturo Benedetti Michelangeli – “The Century Collection”; Ermitage Classics

4 LPs mit klanglich restaurierten Aufnahmen zum 100. Geburtstag des berühmten lombardischen Pianisten

23.08.2020 | Allgemein, cd

VINYL: Arturo Benedetti Michelangeli – “The Century Collection”; Ermitage Classics

4 LPs mit klanglich restaurierten Aufnahmen zum 100. Geburtstag des berühmten lombardischen Pianisten

Il Divino, Perfektionist, Exzentriker mit Medienscheu, Mimosenhafter und überfeiner Nuancierungskünstler, Genie, Schöpfer von zerbrechlichen musikalischen Klangskulpturen: Arturo Benedetti Michelangeli, von seinen Anhängern zum Kürzel ‚ABM‘ verdichtet, werden zu seinem 100. Geburtstag in diesem Jahr viele Eigenschaften und Lob nachgesagt und ebenso etliche Neueditionen gewidmet. Das Label Ermitage Classics präsentiert auf 4 LPs historische Aufnahmen der 50er und 60er Jahre. Wer einmal den aristokratisch-eleganten Italiener live erlebt hat, vergisst das nie. Ich hatte leider nur das einmalige Vergnügen in der 80-erJahren, als Arturo Benedetti Michelangeli im Großen Saal des Wiener Konzerthauses einen seiner seltenen Auftritte hatte. Sein Streben nach Perfektion machte ihn zum einem sog. “Schwierigen”, der Konzerte auch in letzter Minute platzen ließ, weil irgend etwas, wie ein nicht ausreichend gestimmter Flügel, den Künstler naturgemäß auf die Barrikaden trieb. Ich erinnere mich, wie mucksmäuschenstill es war, als der Pianist den Saal betrat, wie er in einem umständlichen Zeremoniell den Hocker lange richtete und wie groß die Erleichterung im Saal war, als er mit einer sagenhaft subtil ausgeleuchteten und dabei niemals martialisch daher donnernden Beethoven-Sonate loslegte. Überhaupt waren dynamische Extreme seine Sache nicht.

Arturo Benedetti Michelangeli wurde am 5. Januar 1920 in Brescia geboren. Er begann seine musikalische Ausbildung im Alter von vier Jahren am Istituto Musicale Venturi und studierte Klavier, Komposition und Violine in Mailand. Zum Klavier wandte er sich erst, als er unfallbedingt das Geigenspiel aufgeben musste. Mit 14 Jahren erhielt er das Solistendiplom und startete seine Konzertkarriere. Mit 19 Jahren gewann er den ersten Preis des Internationalen Pianisten-Wettbewerbs Genf. Der Jury stand damals Ignaz Paderewski vor. Untere seinen Schülern befinden sich Martha Argerich und Maurizio Pollini. Sein Schüler Bernd Goetzke befand in einem interview: “Den Pianisten Arturo Benedetti Michelangeli habe vor allem seine Komplettbegabung einzigartig gemacht. Michelangeli sei nicht nur ein begnadeter Pianist gewesen, sondern hätte auch die „Ohren eines Komponisten“ und das „Gefühl eines Dirigenten“ gehabt. Sein letztes Konzert gab Benedetti Michelangeli am 7. Mai 1993 in Hamburg. Am 12. Juni 1995 starb der Pianist in Lugano.

So manch ebenso Großer und Schwieriger war voll des überschwänglichen Lobs für ABM, wie das etwa aus Zitaten von Sergiu Celibidache – sonst gegenüber Kollegen ein gefürchtetes Lästermaul – überliefert ist, der ihn überhaupt für den bedeutendsten Zeitgenossen hielt. Alfred Cortot hat ganz romanesk festgestellt: „Hier ist ein neuer Liszt“. Joachim Kaiser befand nach einem Konzert bei den Salzburger Festspielen 1965: “Noch kräftiger und jünger als Artur Rubinstein, noch nobler und stilsicherer als Claudio Arrau, noch rhythmischer und intelligenter als Friedrich Gulda und gewiss technisch so perfekt wie Vladimir Horowitz”.

Alle Aufnahmen vermitteln gerade in der Vinyl-Spielart solch einen traumumflorten Zauber und poetischen Charme, dass der Hörer – rasch an das teils historische Klangbild gewöhnt – diese einzigartigen Interpretationen wie einen Jungbrunnen für seine Ohren empfinden mag. Lauschen sie andächtig etwa dem Finale aus Schumanns “Fachingsschwank aus Wien” (1957) oder den bravourös, aber nie schaustellerisch servierten “Paganini-Variationen“ von Johannes Brahms, 1948 aufgenommen. Die Zeit verschwindet vollkommen, wenn dieser begnadete musikalische Geschichtenerzähler anhebt, sein ganz persönliches pianistisches Universum auszubreiten. Wie ABM bei Brahms die polyphonen Strukturen ausbreitet und in den Finalvariationen in teuflischem Tempo loslegt, ist die ganz große Nummer. ABM hatte bekanntlich ein besonders Händchen für die Klaviermusik von Claude Debussy. Die Aufnahme von dessen “Images I und II” aus 1962 wirkt luftig entmaterialisiert, und doch rührt dieser Tastendichter den Farbpinsel ziemlich kräftig. Der Italiener verleiht so dieser wenig konturscharfen, farbschillernden Musik wahre Flügel.

Die Klangqualität der Aufnahmen der flehen 50-er Jahre spiegelt trotz aller technischen Restaurierungssorgfalt die Entstehungszeit und die jeweiligen Aufnahmebedingungen wider. Dennoch erschließt sich die unwiderstehliche Überzeugungskraft dieser überwiegend analogen Aufnahmen bereits nach wenigen Minuten. Die (teilweise) eingeschränkte Klangqualität tritt in der Wahrnehmung völlig hinter der hohen Kunst des Pianisten zurück. Mit Beethoven hat mich ABM durch die luzide Interpretation der Sonate Op. 2 wieder versöhnt, nachdem sich bei mir schon erste Anzeichen eines “Beethoven Burn-Outs” eingestellt hatten. Michalangeli scheint bei dieser frühen Sonate kräftige Stützpfeiler in die Partitur zu schlagen, in die seine unendlich filigran wirkende pianistische Goldschmiedearbeit eingehängt ist. Atemberaubend (auch klangtechnisch) ist die Interpretation des vierten Klavierkonzert von Rachmaninov unter der musikalischen Leitung von Ettore Gracis (ursprünglich für EMI eingespielt). Diese Referenzeinspielung darf ruhigen Gewissens als eine Höhepunkt der Schallplattengeschichte betrachtet werden. Ähnlich begeistern mich bei Rachmaninov nur noch die Aufnahmen mit William Kapell.

Auf den 4 LPs finden Sie folgende Werke:

Franz Liszt: Klavierkonzert Nr.1, Orchestra del Maggio Musicale Fiorentino, Dir: Dimitri Mitropoulos, 1953

Ludwig van Beethoven: Klaviersonate Nr. 3 in C-Dur, Op. 2, 1952

Wolfgang Amadeus Mozart: Klavierkonzert Nr.13 KV 415 Orchestra da Camera Allessandro Scarlatti di Napoli; Dir: Franco Caracciolo, 1952

Wolfgang Amadeus Mozart: Klavierkonzert Nr. 20, Orchestra del Maggio Musicale Fiorentino, Dir: Dimitri Mitropoulos, 1952

Sergej Rachmaninov: Klavierkonzert Nr.4, Philharmonia Orchestra, Dir: Ettore Gracis, 1957

Claude Debussy: Image I und II, 1962

Robert Schumann: Faschingsschwank aus Wien op.26, London März 1957

Johannes Brahms: Paganini-Variationen op. 35, 1948

Parallel dazu hat das Label zum selben Anlass ebenfalls unter der Bezeichnung „The Century Collection“ auf 5 CDs Mitschnitte teils anderer Aufnahmen herausgebracht: Mozart: Klavierkonzerte Nr. 13, 15, 20, Schumann: Klavierkonzert op. 54; Carnaval op. 9, Liszt: Klavierkonzert Nr. 1; Totentanz für Klavier & Orchester, Franck: Symphonische Variationen für Klavier & Orchester, Albeniz: Klavierkonzert h-moll (Allegro); Malagena, Granados: Andaluza, Marescotti: Fantasque, Clementi: Klaviersonate op. 12 Nr. 1, Scarlatti: Klaviersonaten K. 9, 11, 27, 322, Tomeoni: Allegro G-Dur, Bach: Italienisches Konzert BWV 971, Galuppi: Klaviersonate C-Dur; Presto B-Dur, Chopin: Klaviersonate Nr. 2; Scherzo Nr. 2; Mazurken Nr. 25 & 49; Walzer Nr. 9; Berceuse op. 57; Andante spianato & Grande Polonaise brillante op. 22.

Zu kritisieren ist an den Vinyl-Editionen das völlige Fehlen von Informationen zu dem Pianisten als auch zur Entstehung und Herkunft der Aufnahmen sowie ev. auch der Interpretationsgeschichte der Werke.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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