Vicente Valero
SCHACH NOVELLEN
128 Seiten, Berenberg Verlag, 2021
Grundsätzlich gibt es nur eine „Schachnovelle“, „die“ Schachnovelle, und die ist von Stefan Zweig. Der spanische, in Ibiza geborene Dichter Vicente Valero bietet „Schach Novellen“, die mit Schach mehr oder minder, meist aber nur am Rande zu tun haben. Das charakteristische kleine Bändchen im Berenberg Verlag, der den Autor schon mehrfach vorgestellt hat, bietet eigentlich Reiseerzählungen, die vor allem um Dichter kreisen.
Wo Schach vorkommt, kann der Autor – offenbar seinerseits ein passionierter und versierter Schachspieler – allerdings einiges darüber erzählen. Weniger über die Techniken, als über die Psychologie der Menschen, die die wahre Welt verlassen, um sich in ihrer Parallelwelt der Figuren und ihrer Strategien zu verlieren…
Die erste Novelle führt den Ich-Erzähler (und man zweifelt nicht, dass alles akribisch Beschriebene selbst erlebt ist) nach Dänemark. Hier geht es tatsächlich auch um Schach, vor allem aber um Walter Benjamin, dem der spanische Autor schon eine wissenschaftliche Arbeit gewidmet hat und dem er mit spürbarer Achtung (und Kompetenz) begegnet. Benjamin, der deutsche Kulturphilosoph, der 1940 im spanischen Exil gestorben ist, ist seinem Freund (?) Bert Brecht, der sich in den frühen Dreißiger Jahren mit Gattin Helene Weigel und den zwei Kindern ins dänische Svendborg zurückgezogen hatte, dorthin gefolgt.
Fasziniert wurde Vicente Valero seinerseits durch existente Fotos, die die beiden – Brecht / Benjamin – im Garten des Hauses am Schachbrett zeigen. Brecht, mit der charakteristischen „geschorenen“ Frisur und der ebenso charakteristischen Zigarre ganz locker, während Benjamin sich gespannter auf das Schachbrett zu konzentrieren scheint. Wenn der Autor das Haus, den Garten, die genaue Ecke, wo die beiden gesessen sind, aufsucht, dann wird der Lokalaugenschein zur Reflexion über diese beiden Schriftsteller (inklusive die Spannung zwischen ihnen, weil sie sich nicht über die Bedeutung von Franz Kafka einigen konnten).
Brecht und Benjamin kommen in den Kapiteln dieses Buches immer wieder, wenngleich der Autor dann noch andere Schreiber in den Fokus nimmt: Nächste Station Turin, das der Autor ungemein treffend charakterisiert: „.. die gepflegte Geometrie dieser Stadt, die kalkulierte Schönheit, ihr aristokratisches Aussehen, ihre kalte Eleganz, ihre stolze Perfektion“. Hier setzt er sich mit der Hilfe eines alten (Schach spielenden) Ehepaars auf die Spuren von Friedrich Nietzsche, der hier „Ecco homo“ geschrieben hat, mit einem Ausflug zu einem Caravaggio-Gemälde in Genua.
In seiner Eigenschaft als Dichter, in Spanien für seine Gedichte gerühmt, kam Vicente Valero für eine Dichterlesung nach Augsburg, wo natürlich das Brecht-Geburtshaus am Programm stand. Schon bei der Lesung und mehr noch bei einer Schachpartie im Wirtshaus (der Vater des Schachspielers war Schul- und Studienkollege von Brecht) kam dann die Rede auf den Holocaust, den Nationalsozialismus, mit Abstechern nach München und Dachau. Die gedanklich-literarischen Schlenker zu den Ängsten, die aus Kafkas Novellen sprechen, ergeben sich von selbst. In München taucht auch wieder Walter Benjamin auf, der hier studiert hat.
Und man begegnet auch schon Rainer Maria Rilke, der dann für das letzte Reise-Kapitel in die Schweiz im Mittelpunkt steht. Zwar hatte sich der Autor zu seinem „Fünfziger“ eine Reise zum berühmten Wettbewerb „Zürich Chess Challenge“ geschenkt, aber was ihn wirklich interessierte, war der Ort, wo Rainer Maria Rilke seine letzten Jahre zubrachte. Also fand er natürlich „den einsamen Turm von Muzot“…
Wenn der Autor resümiert: „Wie die Schachgroßmeister seit jeher sagen: Es ist ein Geheimnis, wohin eine Partie einen führen kann“, mag Vicente Valero das auf seine Reisen umlegen. Im Endeffekt hätte der Autor sein Buch nicht „Schach Novellen“, sondern „Dichter Novellen“ nennen können, denn sie sind es, auf deren Spuren er sich unermüdlich gesetzt hat.
Renate Wagner