Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

Uwe M. Schneede: ICH!

29.10.2022 | buch, CD/DVD/BUCH/Apps

buch schbeede ich~1 xx

Uwe M. Schneede:
ICH!
SELBSTBILDNISSE IN DER MODERNE
VON VINCENT VAN GOGH BIS MARINA ABRAMOVIC
240 Seiten, Verlag  C.H.Beck, 2022 

Das Selbstbildnis ist seit der Renaissance eines der wichtigen Genres der Kunstgeschichte. Ganz wenige Künstler haben es verschmäht, sich selbst zu konterfeien (Gustav Klimt ist eines der Beispiele), andere taten es ein Leben lang immer wieder. Natürlich hat ein Selbstbildnis mit dem Verständnis des „Ich“ zu  tun (das heute wieder so überbordend in Mode gekommen ist). Und mit ein paar ganz praktischen Überlegungen – man steht sich selbst als kostenloses Modell jederzeit zur Verfügung, es bedarf nur eines Spiegels (wenn überhaupt). Manche Künstler meinten, wie Max Beckmann es ausdruckte, das Selbstbildnis sei die „größte Herausforderung“ der Malerei. Der Künstler zeigt nicht nur sein Verständnis von Kunst, sondern offenbart auch seine Auffassung der Gesellschaft.

Den Blick in die Kunstgeschichte wirft nun „Ich!“, kein klassischer Bildband, vielmehr Bildnisse und Text im Normalformat, aber stets korrespondierend (das Layout ist vorzüglich). Ein Buch also, das Schauen und Verstehen dessen, was hinter den Ich-Werken steht, gleicherweise bedient.

Der Autor Uwe M. Schneede, Professor für Kunstgeschichte in München, der auch jahrelang die Hamburger Kunsthalle leitete, hat auch Einzelmonographien über Van Gogh, Beckmann, Modersohn-Becker geschrieben, die in diesem Buch folglich prominent vertreten sind. (Es liegt auch eine Arbeit über Otto Dix vor, der hier bei den Selbstbildnissen nicht berücksichtigt wurde, obwohl es zahlreiche von ihm gibt.) Nach einer allgemeinen Einführung darüber, wie die „Modernen“ des späten 19. Jahrhunderts sich nach und nach durchsetzten, geht der Autor von Künstler zu Künstler vor, wobei das Spektrum, was sie mit ihren Selbstbildnissen wollten und was sie bedeuteten, unglaublich breit ist.

Van  Gogh steht an der Spitze, der schon früh die Möglichkeiten ausgeschritten hat, wie er ein Gesicht – sein Gesicht – in verschiedenen, auch sozialen Blickwinkeln zeigen konnte, vom dunkeltonigen, gewissermaßen soliden städtischen Realismus bis zum lockeren, bäuerlichen Typ in hellen Farben. Die Tragik seines Schicksals spiegelt sich stationenartig in den Selbstbildnissen bis kurz vor seinem Tod, wo er geradezu verfallen wirkt.

Auf eine Parallele stößt man später bei Picasso, der allerdings im Gegensatz zu Van Gogh, der ja nur 37 Jahre alt wurde, auf eine gut 70jährige Schaffensspanne zurück blicken konnte. Er eröffnete sie 1901 mit dem selbstbewussten Werk, das er „Ich, Picasso“ nannte, und beendete sie 1972, ein Jahr vor seinem Tod, mit einem Gesicht, das schon einer Totenmaske glich.

Auch die Selbstbildnisse von Edvard Munch, der sich 1895 ruhig mit Zigarette darstellt, sprechen von Abgründen, wenn er sich acht Jahre später nackt vor ein Flammenmeer stellte und es „Selbstporträt in der Hölle“ nannte… Wenn er auch nie wieder zu solchem Exzess zurück kehrte, wurden Munchs Selbstbetrachtungen doch sichtbar existenzieller.

Dass Künstler sich absolut nicht „schonten“, dass äußere Ähnlichkeit weit weniger wichtig war als die Schilderung eines seelischen und sozialen Zustands, ermisst man an Bildern wie Ernst Ludwig Kirchners „Der Trinker“ oder Max Beckmanns geradezu schreckhaftes Bild vor der Staffelei. Wie viele „Rollen“ man spielen kann, wird aber gerade an diesem Künstler klar, der sich vom bürgerlich-braven jungen Mann (auch er, wie Munch, mit Zigarette) über erschütternde Porträts sich dann wieder später als saturierter Erfolgsmensch im Smoking darstellte…

Für Österreicher enttäuschend ist das Kapitel über Egon Schiele ausgefallen, der wirklich zahllose bemerkenswerte Selbstporträts geschaffen hat, alle interessanter und aussagekräftiger als die drei, die für das Buch ausgewählt wurden und an denen der Autor weit eher einen „Stil“ als eine persönliche Botschaft erkennen will.

In dem ersten Teil des Buches, der sich „Die Neuerer. Von der Verhöhnung zur Anerkennung“ nennt, finden sich neben anderen großen Namen (Kokoschka, Hodler, Corinth) auch die bedeutenden Frauen (Kollwitz. Modersohn-Becker, Kahlo) sowie einige Künstler, die man tatsächlich nicht kannte (Ottilie W. Roederstein.   Felix Nussbaum, Helene Schjerfbeck), alle mit kurzen biographischen Überblicken und Interpretationen der gezeigten Selbstbildnisse.

Der zweite Teil des Buches, „Umstieg in die neuen Medien. Das Selbst als Akteur“ beginnt mit zwei Österreichern, die einen neuen Blick auf sich selbst warfen – Arnulf Rainer, der in seiner Jugend zum Fotoautomaten am Westbahnhof ging und sich grimassierend (im Stil von Messerschmidt) fotografierte. Auch andere seiner Selbstporträts entstanden aus der Bearbeitung von Fotos, während Günter Brus bekanntlich seinen ganzen Körper in ein Kunstwerk verwandelte.

Die Moderne ging mit ihrem „Ich“ nicht so gewissenhaft (und auch selten mühselig in Ölbildern) um, transformierten auch das Geschlechtliche (es gibt Selbstbilder von Andy Warhol als Drag Queen), führten Rollenspiele mit sich selbst auf (Cindy Sherman) oder schickten die Anklagen über das „geschundene Selbst“ in die Welt (Marina Abramovic). Auch das „Ich“ von Joseph Beuys dokumentiert sich in schonungslosen Fotos.

Das Buch ist ein Angebot für Kunstfreunde, das im allgemeinen (leider nicht bei Schiele) einen einsichtigen Überblick zu seinem Thema bietet, wobei sich letztendlich wieder die wunderbare Vielfalt der Kunst vor dem bewundernden Betrachter ausbreitet.

Renate Wagner

 

Diese Seite drucken