Ursula Overhage:
„SIE SPIELTE WIE IM RAUSCH“
DIE SCHAUSPIELERIN MARIA ORSKA
272 Seiten, Verlag Henschel in E.A. Seemann Henschel GmbH &m 2021
Geboren wurde sie 1893 als Rahel Blindermann in Nikolajew, etwa 100 Kilometer von Odessa entfernt, begraben ist die 1930 in Wien Verstorbene, die man unter ihrem Künstlernamen Maria Orska kannte, am Hietzinger Friedhof. Ein kurzes, nur 37 jähriges Leben voll von gnadenlosen Kämpfen, künstlerischen Triumphen, persönlichen Exzessen. Einst war sie ein ganz großer Name in der deutsch / österreichischen Theaterwelt, vor allem den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Heute ist sie in der breiten Öffentlichkeit vergessen.
Aber in das Buch der Theatergeschichte hat sich diese russische Jüdin mit ihrer außergewöhnlichen Schönheit, ihrem Talent und ihrem Wagemut nachdrücklich hinein geschrieben. Man hat diese Maria Orska „die beste Lulu, die es je gab“, genannt, und der Untertitel dieser Biographie, „Sie spielte wie im Rausch“, charakterisiert die Wirkung, die sie auf das Publikum hatte. Die Theaterstädte Berlin und Wien „lagen ihr zu Füßen“, wie das früher, in einer Welt der wirklich großen Bühnenstars, noch möglich war. Wer weiß, was sie noch hätte leisten können, wäre sie nicht frühzeitig ein Opfer von Tabletten und Drogen geworden.
Es lohnt sich, ihre Geschichte nachzulesen, wie sie die Autorin Ursula Overhage aus unendlich vielen Dokumenten rekonstruiert hat. Denn es ist eine ungemein spannende Theaterwelt, in die da hinein geblendet wird, mit großer Kenntnis der Materie, mit ausführlicher Zeichnung von Zeit und Umwelt, von Menschen und Entwicklungen, von spannenden Konstellationen und sensationellen Premieren.
Glück gehört auch dazu, aus Russland in den Westen zu „fliehen“ und Karriere zu machen, ein Onkel, der Theateragent war, half – aber es war die persönliche Entschlossenheit, der jungen Russin, ihren Weg am Theater zu machen, der sie erst nach Wien in eine Schauspielschule, dann an das Nationaltheater Mannheim führte. An beiden Orten hatte sie einen Gefährten (allerdings nicht Geliebten), der es noch viel weiter bringen sollte als sie: Nathan Cohn, genau so wagemutig, exzentrisch, schwierig wie sie, später als Fritz Kortner bekannt.
Über den Künstlernamen zuerst „Daisy“, dann Maria Orska wurde die willensstarke, herausfordernd schöne, so viel Erotik ausstrahlende Frau auf dem Umweg über Hamburg in Berlin 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, zum Star, dem man sogar „geniale Begabung“ zugestand, so überwältigend muss ihre Wirkung von der Bühne herab gewesen sein. Die „Lulu“ des Frank Wedekind, die provozierendste Frauengestalt der Jahrhundertwende, hatte schon berühmte Interpretinnen gesehen, aber keine wie die Orska, die auch für Oscar Wildes „Salome“, für die Frauenfiguren von Wedekind und Strindberg, den Störenfrieden auf der Bühne, wie geboren war. Gepriesen von Alfred Kerr, dem Kritikerkönig der Epoche, stieg sie die Erfolgsleiter hoch, nicht zuletzt, weil sie schillernd und oszillierend als Typ diese Epoche der Brüchigkeit verkörperte, in der sie lebte. Später wurde ihr das zum Verhängnis, als auf die Hymnen die Kritik folgte, sie hätte immer nur einen Typ und seine Variationen gespielt, wäre außerlich gewesen, habe eine selbstgefällige Technik und berechnende Effekte eingesetzt…
Das Buch zeichnet gleicherweise eine Karriere nach, die bald zu schwanken begann (die Orska spielte auch in Filmen, wurde dort aber nie so berühmt wie auf dem Theater), wie auch eine „nervöse“ Persönlichkeit, die „rauschhaft“ auf der Bühne zu leben eher bewältigte als ihr echtes Privatleben, darunter die unglückliche Ehe mit Baron Dr. Hans von Bleichröder. Sie verkehrte in Kreisen, wo Kokain und Morphium zirkulierte – ob sie sich in ihrer Wiener Wohnung in der Dosis vergriffen hat, ob sie (deren Karriere bald abbaute) Selbstmord begangen hat, man weiß es nicht. Zu den seltsamen Gestalten, die durch das Leben der Orska und folglich durch dieses Buch schwanken, zählt auch eine zwielichtige Schwester. Über weite Stellen läse sich der Verlauf dieser Geschichte wie ein Kolportageroman, wäre sie nicht so gut recherchiert und so ausgewogen erzählt.
Es ist jedenfalls ein wichtiges Stück Theatergeschichte, das hier ausgebreitet wird, ebenso wie die hoch interessante Geschichte einer Frau, die sich selbst alles verdankte – ihren Glanz und ihren Untergang. Eine Reihe von Fotos zeigen die Variationen eines faszinierenden Gesichts durch die Jahre ihres kurzen Lebens.
Renate Wagner