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Ursula Oehme: Die Ruhestätten der Familie Wagner

17.11.2016 | buch, CD/DVD/BUCH/Apps

Buch Wagner Ruhestätten

Ursula Oehme:
Die Ruhestätten der Familie Wagner auf dem Alten Johannisfriedhof zu Leipzig
Leipziger Beiträge zur Wagner-Forschung 5
Herausgegeben vom Richard-Wagner-Verband Leipzig
Sax Verlag Markkleeberg – Beucha 2016
144 Seiten, durchgehend Farbe, Broschur, 14,8 x 21 cm / 16,80 €
ISBN 978-3-86729-174-3174-3

Der rührige Leipziger Richard-Wagner-Verband, der in den Jahren 2009 bis 2012 die ersten vier Folgen seiner „Leipziger Beiträge zur Wagner-Forschung“ vorlegte und im Jubiläumsjahr 2013 mit einem Sonderband in größerer Aufmachung das „Internationale Colloquium“ zu Werk und Persönlichkeit Wagners publizierte, hat nun – 2016 – diese Reihe mit Band 5 fortgesetzt und damit zum Ausdruck gebracht, dass Leipzig weiterhin ein Zentrum der Wagner-Pflege und –Forschung bleibt.

Ursula Oehme hat als langjährige Mitarbeiterin des Leipziger Verbandes gründliche und wohl auch nur vor Ort mögliche Quellenstudien zu den „Ruhestätten der Familie Wagner auf dem Alten Johannisfriedhof zu Leipzig“ betrieben und das Ergebnis ihrer langjährigen Forschungen ist weit mehr, als ein kulturgeschichtlicher oder regionaler „Ortsführer“, sie hat ihre Studien ausgedehnt auf die Personen, deren Spuren sie gefolgt ist und legt damit erstmals eine grundlegende „Vorgeschichte“ der Familie Wagner in Leipzig vor, die sich in dieser Gründlichkeit bisher in keiner verfügbaren Wagner-Biographie findet. Vor allem werden nach der interessanten – oft geradezu kriminalistischen! – Lektüre ihrer Ausführungen zwei Dinge mit besonderer Deutlichkeit klar: erstens, dass Richard Wagners Wurzeln wirklich nicht zu-fällig, sondern weitverbreitet in einer Leipziger Bürgerfamilie liegen, die „von Amts wegen“ mit und zu der Stadt eine enge Beziehung hatte, zweitens, dass eben diese Stadt Leipzig mit ihrem berühmten Sohn und seiner Familie einen nicht gerade als besonders herzlich oder auch nur freundschaftlich zu nennenden Umgang gepflegt hat. Und einmal mehr ist es der Leipziger Richard-Wagner-Verband, der die Dinge ins rechte Licht stellt und hier – durch diese akribisch genaue Abhandlung – Aufklärung und letztlich auch Verbindung schafft.

Natürlich ist nicht alles neu, was Ursula Oehme uns mitzuteilen hat. Aber die bibliographischen Quellen, die sie heranzieht, sind in der Regel vor mehr als hundert Jahren publiziert worden und längst nicht mehr, oder doch zumindest sehr schwer zugänglich. Sie belässt es aber nicht bei Dingen, die der Insider möglicherweise kennt – hier besonders die, heute in vielen Einzelheiten überholte, sechsbändige Wagner-Biographie von Carl Friedrich Glasenapp, sowie die Veröffentlichungen des langjährigen Leipziger Museumschefs Walter Lange zur Familiengeschichte aus den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts – sondern sie geht in die Tiefe und recherchiert in Leipziger Archiven, besonders der Stadt und der Kirchen, und kann auf diese Weise einen verlässlichen und notwendigen Überblick über Wagners Herkunft und auch die weiteren Verzweigungen seiner Familie in Leipzig schaffen. Neben authentischen Akten der Stadt und der Kirchen belegen historische Zeitungszitate und Brief-Ausschnitte den Text.

Wagners Großvater , Gottlob Friedrich Wagner, kam ursprünglich als Student der Theologie aus Müglenz nach Leipzig, konnte seine theologische Laufbahn allerdings nicht fortsetzen, nachdem er Vater eines unehelichen Knaben geworden war; dessen ungeachtet hielt er der Mutter jenes Knaben die Treue und ehelichte sie, nachdem er „General Accis Thorschreiber alhier“ geworden und somit eine sichere Existenzgrundlage für eine Familie gefunden hatte. Unter den fünf Kindern seiner Familie befanden sich zumindest zwei, die der Stadt Leipzig später eng verbunden waren: der 1770 geborene, spätere „Polizei-Actuarius“ Carl Friedrich Wilhelm Wagner, Vater Richard Wagners, und sein vier Jahre jüngerer Bruder Gotthold Heinrich Adolph, der ein weithin beachteter Privatgelehrter und freier Schriftsteller wurde, Werke von Scott, Gozzi und Sophokles ins Deutsche übersetzte, sich als Herausgeber von Werken Giordano Brunos, Dantes, Petracas, Burns und Seumes verdient machen konnte und mit zahlreichen Zeitgenossen – E. T. A. Hoffmann, Jean Paul und Fouquet z. B. – in engem Kontakt stand sowie Goethe, Schiller und Tieck zu seinem persönlichen Bekanntenkreis zählte. Er vor allem war es, der dem jungen, heranwachsenden Richard Wagner wichtige und für sein Schafen wesentliche Denkanstöße und Stoffquellen erschlossen hat.

Ohne das Wissen um das Ringen des Großvaters um eine Existenz in Leipzig bliebe eben auch die besondere Bedeutung von Wagners Vater für die Stadt unverständlich und ohne beider enge Bindung an das Gemeinwesen könnte man schwerlich von einer Leipziger Bürgerfamilie sprechen. Die Tatsache, dass Wagner seinen Vater nicht gekannt hat, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Polizei-Aktuar ein sehr wichtiger Bediensteter der Stadt gewesen ist und auch hohes Ansehen genoss. Oehme zeichnete gerade den Weg des Großvaters und des Vaters nach Leipzig sehr eindringlich und belegt diesen Weg mit wichtigen Quellenstudien. (Im Zuge ihrer Recherche konnte auch die ursprüngliche Grabstelle des Vaters von Richard Wagner ermittelt und ihm im Jahre 2013 durch den Leipziger Richard-Wagner-Verband ein posthumer Gedenkstein gesetzt werden).

Noch interessanter war für mich die Darstellung der Lebenswege anderer enger Verwandter Wagners, die nicht nur die starke Bindung an Leipzig beweisen – zwei seiner Schwestern heirateten in die Brockhaus-Dynastie ein, was als bekannt gelten darf, nicht aber, wie die Beziehungen Wagners zu den jeweiligen Familien in späterer Zeit gewesen sind (die Autorin konnte in diesen Zusammenhängen auch Briefe aus dem Nationalarchiv Bayreuth berücksichtigen, die noch nicht in der neuen Briefausgabe veröffentlich wurden!) – sondern ebenso beweisen, dass die Stadt Leipzig oft engstirnig und geradezu provinziell handelte, wo es um Persönlichkeiten ging, die ihr selbst zum Ruhme hätten gereichen müssen. Der Verleger Brockhaus erlangte Weltgeltung, der Schwager Wagners, Oswald Marbach, war ein weit über Leipzigs Grenzen anerkannter Philologe. All diese Beziehungen zeichnet die Autorin liebevoll nach, erstmals habe ich z. B. erfahren, dass Marbachs Tochter, an deren Geburt die Mutter, Wagners Lieblingsschwester Rosalie, starb nicht nur den gleichen Vornamen erhielt sondern auch in beruflicher Weise der Mutter nacheiferte und einen gewissen Erfolg dabei erringen konnte; Oehme leistet mit der Nachzeichnung der künstlerischen Entwicklung dieser Wagner-Nichte, Rosalie Marbach, die später den Schauspieler Ludwig Daniel Frey aus Hamburg heiratete, einen nicht unbedeutenden Beitrag zur Theatergeschichte.

Die Bilanz, dass sechzehn Familienmitglieder auf diesem Friedhof ihre letzte Ruhe gefunden haben, beweist die weite Verwurzelung der Wagner-Dynastie in der Stadt Leipzig; Oehme legt aber ebenso über weitere Geschwister Wagners Rechenschaft ab, die nicht in Leipzig beigesetzt wurden. Es ist ihr eine „Familiengeschichte“ im besten Sinne gelungen, die einmal mehr deutlich macht, dass „der Meister nicht vom Himmel gefallen“ ist, sondern in einem Umfeld sich entwickeln konnte, das zumindest ein guter Nährboden für ein Genie war. Und die Stadt Leipzig hat sich ihres (einzigen!) Genies gegenüber nicht immer sehr fair verhalten, was im zentralen Kapitel des Buches – der Geschichte des Grabmales von Wagners Mutter und Schwester, nachdrücklich zum Ausdruck kommt. Dabei entbehrt es nicht eines gewissen Humors, dass die gestrenge „Herrin von Bayreuth“, Cosima, die ihren „Meister“ bekanntlich heroisierte und der Mit- und Nachwelt gern vermittelte, dass es andere verwandtschaftliche Beziehungen nicht gab, dem etwas schwerfälligen Leipziger Rat mit Nachdruck auf die Sprünge geholfen hat…

Ein sehr interessantes und lesenswertes Buch, das durch seine durchweg gute Gestaltung und viele, meist farbige historische Abbildungen auch ein optischer Genuss ist. Kompliment!

Und nicht zuletzt: Dank dem Leipziger Richard-Wagner-Verband, dass er diese interessante und spezielle Reihe der „Leipziger Beiträge zur Wagner-Forschung“ fortsetzt!

Werner P. Seiferth

wagner987

Der vom Leipziger Richard-Wagner-Verband 2013 errichtete Gedenkstein an der originalen Stelle des Grabes von Wagners Vater
Foto: Hans-Jürgen Seiferth

 

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