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TTT: „Die Dirne“ u. a.  Literarisches Sentiment versus blasser Theaterseele

09.06.2023 | Allgemein, Themen Kultur

 TTT: „Die Dirne“ u. a.  Literarisches Sentiment versus blasser Theaterseele

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„Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ A. de Saint-Exupéry,  Zur Wesentliches zermalmenden Inszenierungsmisere der Musiktheater.

 Gustav Freytag * 1816  † 1895 deutscher Schriftsteller https://de.wikipedia.org/wiki/Gustav_Freytag

Lese mal wieder „ Soll und Haben“ von G. Freytag mit über die Jahre durchaus gewachsener Distanz.

Inhalt: Der bürgerliche Anton Wohlfahrt beginnt in Breslau eine kaufmännische Ausbildung und verliebt sich in die adlige Lenore. Deren Vater wird das Opfer einer Intrige. Anton gibt sein Kaufmannsleben auf und hilft der ruinierten Adelsfamilie, auf einem Gut in Polen wieder Fuß zu fassen.

Trotz zeitgeistigem Antisemitismus ist der Roman faszinierend und zeichnet in seiner biedermeierlichen Monumentalität ein beeindruckendes Bild von den sozialen Verhältnissen. Als zeithistorische Quelle und literarische Umsetzung nationalliberaler Weltanschauung hat er bis heute nichts an Wert eingebüßt. Musterbeispiel für den bürgerlich-programmatischen Realismus. Die Weltanschauungen bleiben zu hinterfragen. Gerade deshalb kann die Lektüre in uns etwas bewegen, entsteht immer wieder neugieriger Unwille.                

https://www.xlibris.de/Autoren/Freytag/Werke/Soll%20und%20Haben

Nationalliberalismus oder auch Rechtsliberalismus genannt, bezeichnet eine politische Haltung, die sich im 19. Jahrhundert im Streben nach individueller Freiheit (Liberalismus) und nationaler Souveränität (Nationalismus) bildete. Im Gegensatz zum Sozialliberalismus bildet der Nationalliberalismus den eher konservativen Flügel des liberalen Milieus. https://de.wikipedia.org/wiki/Nationalliberalismus

Im Gegensatz zur gängigen Musiktheaterpraxis, wo reale (kein Rübenrauschtheater) unangenehme gesellschaftliche Themen gern mal mit schalem Opportunismus glattgebügelt werden, in konturlosem Mitläufertum enden, wie z. B.  Blackfacing Diskussionen jeder Pöbel-Attacke sofort Akzeptanz widmen (zuletzt Gärtnerplatztheater „Jonny spielt auf“, dramaturgisch notwendiges Schminken wurde nach erstem Gemecker sofort unterlassen, Inszenierung abgesetzt) –  bietet sich  in „Soll und Haben“ die Möglichkeit historische Umstände zu reflektieren, nicht untergehen zu lassen, zu repetieren und wach zu halten. Soll man auch (historische) gesellschaftliche Übel totschweigen, tabuisieren oder immer mal in Erinnerung rufen, zur aufmerksam sensiblen Fortführung humaner Gesellschaften mit allem Sentiment, statt die verblassende Theaterseele in Blässe und Blasiertheit weiter zu manifestieren?

Das Judenbild in Gustav Freytags Roman „Soll und Haben“  (wesentlich ca. 20 Seiten)

u.a. Kritisches zur Problematik von Rassismus und Antisemitismus

https://www.audimax.de/fileadmin/hausarbeiten/germanistik/Hausarbeit_Germanistik_Das_Judenbild_in_Gustav_Freytags_Roman_Soll_und_Haben_axh0179.pdf

Zu G. Freytags aufrüttelnder Begabung:

 Die Dirne                                                                                                                                

 „Was ziehst du an meinem Mantel, du schönes bleiches Gesicht?“
„Verzeiht, es war der Nachtwind, das Käthli war es nicht.“ —
Er nimmt den Mantel zusammen und schreitet die Straße hinauf;
Sie huscht an seine Seite in hastigem, leisem Lauf.
„Schon wieder, du kecke Dirne? “ Sie fährt zusammen und spricht:
„Verzeiht, es war Versehen, mit Willen that ich’s nicht.“
Und wieder zum drittenmale verzieht sich des Fremden Gewand.
„Hinweg, du Tochter der Sünde!“ Sie steht wie festgebannt
Und hält die Hand vor’s Antlitz und flüstert bang‘ und schwer:
„Willkommen, du schmucker Knabe, o schau‘ auf das Käthli her,
Hier draußen ist’s so eisig, in meiner Kammer so warm,
Dort sollst du fröhlich entschlafen in meinem weichen Arm,
Du ruhst bis zum nächsten Morgen in meinem Kämmerlein,
Dort will das arme Käthli heut Nacht dein eigen sein.“
Sie sprach gebrochen und stockend und hatte doch viele Wochen
Die lockenden Liebeslaute sich selber vorgesprochen.
Der Fremde faßte sie schweigend an ihrer zitternden Hand
Und ließ sich durch sie führen im Schatten der Häuserwand.
Sie kamen in schlechte Gassen bis unter das ärmlichste Dach

Und stiegen auf knarrenden Treppen ins hohe Brautgemach.
Sie drehte hastig die Schlüssel und bat in’s Zimmer zu gehn.
Wie war die Decke so niedrig, kaum konnte der Fremde stehn;
Die Fenster waren behangen mit rothem verschossenem Zitz,
Verklöbt mit papiernen Streifen im Glase der breite Ritz.
Es saß beim Ofen im Stuhle Großmutter mit hagrem Gesicht,
Sie konnte nicht mehr sehen, nicht hören und sterben nicht,

Sie saß so starr und elend, verfallen am ganzen Leib.
Und in dem Bette stöhnte und ächzt‘ ein krankes Weib;
Am Fenster stand in Scherben ein grüner Myrthenbaum,
Das einzige frische Leben im traurigen engen Raum.
Und an dem Tische lehnte bei trübem Lampenschein,
Gestützt auf alte Bücher der Dirne Schwesterlein
Und lernte Bibelsprüche und schrieb sie in’s Schreibebuch;
Und lernte Bibelsprüche! hier unter Sünd‘ und Fluch!

Die Maid warf Hüll‘ und Kappe auf einen Schemel beide,
Und stand in der Mitte des Zimmers im luft‘gen weißen Kleide.
Ihr Köpfchen war mit Flechten und alten Flittern geschmückt,
Die Wangen mit Schaam begossen, die Augen zugedrückt.
So wies sie mit bebendem Arme zur Kammer nebenan,
„ Es wird uns Niemand stören.“ Dem fremden Manne gerann
Vor Grau’n das Blut in den Adern, er blickte hinter sich
Und sprach mit hohler Stimme: „Sprich, Käthli, kennst du mich?“
Die Dirne wankt‘ und lachte und bot ihm die Hand zum Gruß,
Und fiel mit ersticktem Schreie zu Boden an seinen Fuß.

Er kniete bei ihr nieder und legte die kalte Hand
Auf ihre Schlaf und weinte. Da rief es von der Wand:
Ach Käthli, mich hungert und dürstet, ach bitte den blanken Herrn,
Er giebt die wenigen Groschen für seine Freuden gern.
Die Mutter, die Mutter der Dirne war dort das kranke Weib,
Sie hatte dem Teufel verkuppelt der eignen Tochter Leib,
Und der bei’m Käthli kniete, der hatte in besseren Tagen
Das Mädchen mit heißem Lieben in seinem Herzen getragen;
Heut kam er aus der Fremde zu holen die lachende Braut,
Und fand die bleiche Dirne der Hölle zugetraut.
Das war die schwerste Stunde für zwei gebrochne Herzen.
Werft schwarze Schleier darüber! von solchen nagenden Schmerzen
Soll Jeder die Augen wenden hinauf zum Sonnenlicht.
Das Käthli ertrug die Sünde, die Liebe trug sie nicht.

Die Stunde war vergangen, da saß der fremde Mann,
Das Haupt in seiner Linken, und sah das Mädchen an;
Am Bette saßen zusammen die Frauen und das Kind
Und priesen den jungen Geber und aßen und tranken geschwind.
Das Käthli kniete vor ihm, den Kopf auf seinen Knien
Und wehrt‘ ihm mit den Händen das Kinn herauf zu ziehn.
Ach Robert, ich wage nimmer die Augen aufzuschlagen,
Hier laß mich liegen und ruhen und dir das Elend klagen.
Ich hätte gern gehungert, die Mutter flucht‘ und bat,
Die Schwester stand und weinte, Großmutter gab den Rath,
Drauf kamen die bösen Träume und glühten mich zur Luft,
Und sieh‘, ich ging zur Sünde, dein Zeichen auf der Brust. —
Sie riß sich heftig am Halsweh und zeigte den goldenen Reif
Mit seinem Haar und Namen, durch schmalen seidenen Streif

Am Halse fest gebunden. D’rauf hielt sie den Mann am Ohr
Und raunte: ihnen sagt‘ ich, daß einst ich den Ring verlor;
So Hab‘ ich ihn gerettet und als ich Dir nachgerannt,
Da hat er wie glühendes Eisen auf meiner Brust gebrannt.
Sie bebte am ganzen Leibe und schob sich an ihm empor,
Und sprach mit gesenktem Haupte noch leiser ihm in’s Ohr.
Und jetzt verlast‘ mich, Robert, wir müssen auf immer scheiden,
Bin eine Dirne geworden, die soll mein Liebster meiden.
Geh, Robert, es ist ja Nachtzeit, du ehre die Mädchensitte —
Verlast‘ mich, lieber Robert — und noch die letzte Bitte
Und küsse mich noch einmal, als war‘ ich deine Braut,
Als hält‘ ich nicht gesündigt und deiner Treue vertraut.
Sie schloß die Augen schamhaft und bot ihm die Lippen dar;
So hingen sie an einander, ein schönes trauriges Paar.
Sie zuckte plötzlich zusammen, umschlang ihn mit ihren Armen
Und seufzt‘ an seinem Halse erglühend: Hab‘ Erbarmen!
Verlast‘ das elende Käthli und denk‘ in Liebe mein.
Und öffnet‘ endlich die Augen und sah in die seinen hinein,
Da drang ein Strom von Liebe und heißen Thränen heraus:
Erbarme dich, Liebster, verlass mich, verlast‘ der Sünde Haus.
Er sprach mit Ernst: ich scheide, doch morgen kehr‘ ich zurück,
Und kauft dich los vom Elend zu neuem Leben und Glück;
Sie schüttelte mit dem Köpfchen und sagte: Gute Nacht!

Bei’m ersten Schimmer des Tages war Käthli’s Freund erwacht,
Er suchte das Haus des Liebchens im dämmernden Morgenlicht
Und pochte vor der Thüre. Da kam das Käthli nicht,
Es kam die kleine Schwester und legte die Hand zum Mund:
Das Käthli schläft, sei ruhig! ihr ist der Schlaf gesund.
Sie hat in den letzten Nächten bei fleißigem Spinnen gewacht,
Doch gestern hat sie mich lächelnd zuerst in’s Bett gebracht,
Hat meine Bibel genommen und ist in die Kammer gegangen;
Ich hörte sie lange beten, und durch die Ritze drangen
Lichtstrahlen in die Stube, doch endlich verlosch das Licht,
Da ist sie ruhig entschlafen, sei still und störe sie nicht.
Er trat in die Kammer und beugte sich über das Bette hin,
Sie lag mit gefalteten Händen, die Decke bis an’s Kinn
Heraufgezogen, die Wänglein mir freudigem Roth bedeckt,
Verklärt und selig entschlafen. — Der Fremde stand erschreckt,
Er hielt das Ohr an die Lippen und suchte des Pulses Schlag —
Sie wollte nicht erwachen an ihrem Freudentag. —
Da küßt‘ er ihre Lippen, umfing sie mit den Armen,
Und rief: sie schläft, du aber dort oben habe Erbarmen!

 

Tim Theo Tinn 10.6.2023

 

 

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