Lösung jenseits des Lebens – Benjamin Britten: Peter Grimes, Theater Trier 14.4.2012 (Premiere: 24.3.12)
Foto: Theater Trier
Brittens Fischerdrama „Peter Grimes“ erobert allmählich die kleinen Bühnen. Nach NRW mit Bielefeld und Münster fand das Werk nun auch an der Mosel in Trier einen Hafen. Im Vergleich zu den anderen beiden Häusern, die zwar in höchst unterschiedliche Weise, aber doch beide die naturalistische Schiene bedienten, findet Matthias Kaiser für seine Inszenierung in Trier die radikalste Lösung. Im kybernetischen Bühnenbild Manfred Grubers mit seinen beweglichen Körpern und den strengen Kostümen von Angela C. Schuett atmete „Peter Grimes“ eine Archaik, die das Werk zu einer postantiken Schicksalstragödie wendete, wodurch dem Werk neue, ungeahnte Perspektiven eröffnet wurden.
Schon die erste Szene, in der Grimes vor Gericht steht hat etwas antik Archaisches. Auf hochgefahrenem Podest sitzt der Chor, unten an der Rampe in seiner, wie eine verkrustete Wunde mit roter Blutspur gezeichneten Hütte, steht der Angeklagte. Zwar ist es nicht der schuldig unschuldige Retter Thebens, aber in seiner Einsamkeit ist auch Grimes ein Getriebener. Wenn sich der Chor dann zur Masse erhebt und sich hinter ihre blutroten Takellagen versteckt, so weckt das Bilder an den von den Erynnien verfolgten Orest. Aunties Pub wird zur Höhle der Kalypso mit ihren beiden sirenenhaften Nichten. Ellen Orford ist eine hoffnungslose Penelope, die vergebens auf ihren Ulysses wartet. Dessen Züge trägt Grimes hier ebenso in sich, wenn er sich wie der antike Seefahrer an sein Schicksalsseil fesselt. Es sind starke Bilder, die das Trier Regieteam Dank einer ausgeklügelten Lichtregie und strengen Personenchoreographie da evozieren. Das ergreifendste vielleicht wenn sich – kurz vor dem Wahnsinn Grimes – der Chor zum Mob verdichtet und des Fischers Namen in die Nacht skandiert, dieser, auf dem hintersten Podest, Schatten gleich mit dem toten Knaben in Pietà-Haltung auf dem Arm, fassungslos in ein fatalistisches Nichts starrt. Erlöst durch des modernen Charons Balstrode Angebot von der „Lösung jenseits des Lebens“, reißt Grimes dünner Lebens- und Schicksalsfaden.
Solch einer Interpretation hat auch die Musik zu entsprechen und es ist faszinierend zu erleben, wie zwei völlig verschiedene Ansätze ihre Berechtigung haben. Während der Bielefelder GMD Alexander Kalajdzic in expressivere Strenge Brittens Partitu fast in die Nähe Schostakowitsch rückte, kommt sein Trierer Kollege Victor Puhl mit einem kammermusikalischen Ansatz daher, ohne aber die Expressivität außen vor zu lassen. Das Klangerlebnis ist überwältigend, bei dem frappierend zu konstatieren ist, wieviel von Brittens Spätwerk, vor allem von „Death in Venice“ schon in Ansätzen im Grimes steckt. Für das Philharmonische Orchester der Stadt Trier gehört das Werk des Orpheus Britannicus mit Sicherheit nicht zum Alltäglichen, aber mit Feuereifer und die Gunst der Stunde nutzend, bewältigten sie unter dem ruhigen Schlag ihres GMD ihre Aufgabe weit mehr als souverän und setzten vor allem auf eine berückende Schönheit des Klangs. Gleiches Prädikat gilt dem grandiosen Opern- & Extrachor des Theaters Trier in der Einstudierung Angela Händels. Selbst die heiklen a capella Stellen kamen in äußerster Perfektion daher.
Puhls schlanker Ton kam aber nicht zuletzt dem sehr homogenen Ensemble zu Gute. Der Tristan-erprobte Gianluca Zampieri ließ uns den modernen Fischer-Ulysses mit all‘ seinen Schicksalsfacetten glaubhaft erscheinen. Seinen Heldentenor ließ er nie voll auftrumpfen, dafür gelangen ihm Pianoraffinessen edelster Schönheit. So die visionäre Sternenerzählung, ergreifend seine finale Wahnsinnsszene. Neben ihm Susanne Schimmack als überragende Ellen Orford. Sie betonte den mütterlichen Aspekt der Rolle, was vor allem durch ihren strahlenden Mezzo mit stupender Höhenfähigkeit zum tragen kam. Auch sie war als Tragödin glaubhaft. Beiden gelang es im Zusammenspiel mit dem Knabenstatisten Philipp Voigtländer (John) auch in ihm tragische Fähigkeiten zu entdecken und zu erwecken, eine grandiose Leistung. Laszlo Lukacs befreite deren beider Freund Balstrode vom Rollenklischee des bärbeißigen Seebären, nicht nur durch seine schlanke Erscheinung, sondern auch durch seinen nobel verströmenden kantablen Bariton. Überzeugend als Auntie Diane Pilcher.
Mit der Rolle der Nichten und in Ansätzen auch mit der des Methodistenpredigers Bob Boles rief Britten Reminiszenzen an seine Zeit im amerikanischen Exil herauf. Mit dem musicalgewandten Luis Lay und seinen schlangenhaften Bewegungen erwächst Boles zu einem europäischen Bruder des aalglatten Dealers Sportin‘ Life aus Gershwins „Porgy and Bess“. Ihren aufreizenden Sirenencharakter präsentieren die beiden Nichten (Joana Caspar & Evelyn Czesla) nicht nur durch ihre optische Erscheinung, sondern legen die verführerische Süße auch in ihre Sopranstimmen. Claudia-Denise Beck gab als Mrs Sedley eine köstliche Studie der schrulligen Alten, herrlich der Einfall der Regie ihr als Requisit einen Flipstick zur Hand zu geben.
Das konzentrierte fast vollbesetzte Rund würdigte die Aufführung mit fast frenetischem Applaus. Opernfreunde sollten sich die letzten Termine rot ankreuzen und keinenfalls entgehen lassen, die Reise an die Mosel lohnt sich! (Termine: 20.4.; 29.4. und letztmalig am 5.5.)
Dirk Altenaer