Thomas Blubacher:
DAS HAUS AM WALDSÄNGERPFAD
Wie Fritz Wistens Familie in Berlin die NS-Zeit überlebte
192 Seiten, Verlag Berenberg, 2020
Der Name Fritz Wisten (1890-1962) strahlt nicht über die gesamte deutsche Theaterlandschaft, aber im Berlin der unmittelbaren Nachkriegszeit war er ein wichtiger Mann: Er leitete das Theater am Schiffbauerdamm, bis Bert Brecht es ihm im wahrsten Sinn des Wortes für sein Berliner Ensemble „entriß“, und er war der erste Direktor der damals neu errichteten Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, die in unseren Tagen durch Frank Castorf so viel Publicity und auch Ruhm geerntet hat.
Aber diese späte Karriere, gewissermaßen eine Wiedergutmachung für Erlittenes, steht nicht im Mittelpunkt des Buches von Thomas Blubacher. Dieser Autor, der u.a. eine höchst bemerkenswerte Biographie über Gustaf Gründgens geschrieben hat, erweist sich wieder einmal als Fachmann der deutschen Theatergeschichte voran des 20. Jahrhunderts, die ja nun einmal unvermeidlich mit der Zeitgeschichte Hand in Hand geht. Und so erzählt er in „Das Haus am Waldsängerpfad“, wie Fritz Wisten und seine Familie in Berlin die NS-Zeit überlebten. Und das ist eine so tragische wie interessante Geschichte, die viele, viele jüdische Schicksale umfasst.
Fritz Wisten war ein Wiener Jude, geboren 1890 als Moritz Weinstein in eine Wiener Familie, in der es alle (er hatte zahlreiche Onkel) zu etwas gebracht hatten. Aufgewachsen am Alsergrund, zeigte Moritz große Neigung zum Theater. Ein Kommilitone an der k.k. Akademie für Musik und darstellende Kunst war Fritz Nathan Kohn, später der berühmte Fritz Kortner.
Der Weg des jungen Fritz Wisten (so sein Künstlername) führte durch die damalige Provinz, Kattowitz, Teplitz-Schönau und nach dem Ersten Weltkrieg, wo er wegen Erkrankung nur kurz dienen musste, dann Wien, Graz, Eisenach. Von Berlin ging er nach Stuttgart, wo seine Karriere als „interessantester junger Schauspieler“ der Stadt aufblühte und u.a. Emmy Sonnemann, später die Gattin von Hermann Göring, seine Kollegin war. 1921 lernte der die (arische) Schauspielerin Gertrud Widmann kennen, sie heirateten 1923, bekamen zwei Töchter (1924 Susanne, 1930 Eva), und Trude gab ihre eigene Karriere zu Gunsten der Familie auf.
Dass er mit einer Arierin verheiratet war, bewahrte Fritz Wisten davor (man nannte es „privilegierte Mischehe“, zumal sich Wisten evangelisch taufen ließ und auch Gattin und die halbjüdischen Töchter dieser Religion angehörten), wie andere Juden deportiert zu werden, als ihm mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten von einem Tag zum anderen der Boden unter den Füßen weggezogen wurde: Alle Verträge mit Juden wurden gekündigt. So wie Wisten verloren rund 8000 jüdische Schauspieler, Regisseure, Tänzer, Sänger, Ausstatter ihre Stellungen. Einzige Rettung war damals der „Jüdische Kulturbund“, der auch angesichts der neuen Herrschaft für Juden beruflich Unterschlupf bot. Obwohl Österreicher, sah Wisten in Wien, wohin sich viele Kollegen wandten, keine Chancen, und Exil in einem nicht-deutschsprachigen Land wollte er vermeiden.
So zog die Familie nach Berlin, in den Ortsteil Nikolasee, wo sie das Haus am Waldsängerpfad erwarben, ein erst ein paar Jahre alter moderner Bau im „Werkbund“-Stil, der auch noch Platz für Untermieter bot. Wisten war als Schauspieler und Regisseur und später als Leiter an den Aufführungen des Jüdischen Kulturbunds beteiligt und klammerte sich an das Überleben in dieser Stadt, wo jüdische Freunde und Bekannte deportiert wurden, wenn ihnen nicht die Emigration gelang.
Die „arische“ Familie der Gattin wollte mit den „Juden“ nichts zu tun haben, und die Gestapo ließ Wisten nicht in Ruhe. Einmal wurde er wohl nur durch die Fürsprache von Admiral Canaris, der in der Nähe von ihnen wohnte, frei gelassen…
Die Familie Wisten hielt unerschütterlich zusammen, und sie halfen auch anderen. Eine ganz besondere Figur in dieser Geschichte ist auch „Freddy Berliner“, den das Theaterpublikum später als Alfred Balthoff kannte und an dessen Skurrilität das Wiener Burgtheater-Publikum sich viel später lange ergötzen durfte. Damals ein frecher junger Mann riskierte er Leib und Leben, als er ohne Judenstern durch die Stadt und auch ins Theater ging – zudem tragischerweise Juden unterwegs waren, um im Dienst der Nazis die untergetauchten Juden aufzuspüren… Freddy schlüpfte Nacht für Nacht woanders unter, bis ihn die Familie Wisten aufnahm – ein enormes Risiko für alle Beteiligten. (Warum Balthoff die Beziehung nach dem Krieg abrupt und ohne Begründung abbrach, hat sich die Familie nie erklären können.)
So wie Balthoff gibt es viele jüdische Schicksale, die hier vorüber ziehen, und der Autor konnte noch vor ihrem Tod mit Susanne Wisten (sie war mit dem Bühnenbildner Roman Weyl verheiratet) und mit Eva Wisten sprechen, die neben vielen anderen Augenzeugen, die Blubacher befragt hat, der Geschichte am nächsten waren und für ungemein lebendige Erinnerungen sorgten. Es war eine schwere Zeit, ein Leben unter steter Bedrohung, und es brauchte viel Glück (das damals wenige hatten), um das Überleben aller Beteiligten zu ermöglichen.
Nach dem Krieg durchrast der Autor das Leben und die Karriere Wistens und seiner Familie in der russischen Zone, sprich DDR. Wisten war ein kompetenter, erfolgreicher Theaterleiter in Berlin bis zu seinem Krebstod 1962, gestorben in seinem Haus am Waldsängerpfad. Seine arische Frau, die so viel für die Rettung von Juden getan hatte, wurde vom Staat Israel als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt.
Alfred Balthoff, dem Wisten dabei half, sich nach dem Krieg wieder als Schauspieler zu etablieren, hörte nie auf, sich über den leichtfertigen Umgang Deutschlands und Österreichs mit der Vergangenheit zu entrüsten. Als Kurt Waldheim 1986 Bundespräsident (nicht „Staatspräsident“, wie Blubacher schreibt) wurde, verließ er empört Wien – sehr zum Kummer seiner österreichischen Fans, die sich durch seine Darstellungen stets bereichert gefühlt hatten. Ob es diesen Alfred Balthoff ohne die aktive Unterstützung der Wisten-Familie gegeben hätte?
Renate Wagner