Was kann Teodor Currentzis? Will he save classical music?
Eine grandiose Hörerfahrung anhand seiner drei frühesten Aufnahmen: Purcells Dido und Aeneas, Mozart Requiem, 14. Symphonie von Shostakovich – ALPHA CLASSICS 3 CDs
Ein selbsternannter Retter der klassischen Musik, ein gnadenloser Perfektionist wie Glenn Gould, ein missionarisches Lästermaul wie Celibidache? Ein visionärer Showman, Besessener und freaky Popstar im heiligen Klassiktempel? Vielleicht, aber auch ein Orchestererzieher von Gnaden, Spezialist für orchestrales Feintuning sowie ein anfeuernder und mitreißender künstlerischer Guru wie Ariane Mnouchkine in und mit ihrem Théâtre du Soleil.
Alpha Classics hat nun die frühen Aufnahmen 2008-2010 aus Nowosibirsk jetzt im Paket oder einzeln gerade rechtzeitig vor der „La Clemenza di Tito“ Premiere in Salzburg neu auf den Markt gebracht. Abseits aller eigen- und fremdkonzeptualen Ergüsse, allem sensationshaschenden verbalen und optischen Firlefanz kann bei Tonträgern rein die Musik „sprechen“ und gehört werden.
HENRY PURCELL: DIDO UND AENEAS
Weitgereist ist diese sagenumwobene, aus Liebeskummer in den Tod gleitende Königin aus antiken Gefilden in Nordafrika an die Themse und zuletzt weiter bis nach Nowosibirsk, von wo sie schließlich aus unseren CD-Playern im Wohnzimmer ihr finales „When I am laid to earth“ haucht.
Die Aufnahme mit Simone Kermes in der Titelrolle at her best, der sanft jubilierenden Deborah York als Belinda und dem markigen Dimitris Tiliakos als Aeneas ist wohl Referenz. Für die größte Überraschung sorgen The New Siberian Singers, eine präzise Kammerchorformation von Gnaden, absolut in derselben Liga und auf Augenhöhe etwa mit Gardiners Londoner Monteverdi Choir oder den Stockholmer Kammerchören unter Eric Ericson. In den Chorpassagen spitzt Currentzis das Drama extrem zu, wahrlich keine leblos akademische Übung. Ähnlich wie bei Bachs Passionen wird hier die Handlung im Sturm vorangetrieben. Teodor Currentzis, mit allen Wassern der Originalklangbewegung gewaschen, intensiviert nochmals artikulatorisch alle Tugenden der „Klangrede“. Kein Dirigent vor ihm hat die Vielfalt der Stilebenen, also der englischen, französischen und italienischen Wurzeln der einstündigen Oper, nach dem Vorbild des shakespeareschen Theaters und der venezianischen Oper so auf den Punkt gebracht. Das gilt für Temporegie, Dynamik und Klangdramaturgie. Die barock auftanzende Ouvertüre, der theatralisch-schicksalshafte Hexen- und Geisterakt mündet schließlich in das herrlich pianissimo gesungene Lamento der Dido, einem Schulbeispiel an hoher Legatokultur. Simone Kermes ist hier wohl in der Rolle ihres Lebens zu hören.
WOLFGANG AMADEUS MOZART: REQUIEM
Gerade bei der Ouverture spirituelle der Salzburger Festspielen 2017 für seine Interpretation des Mozart-Requiems mit Standing Ovations gefeiert, kann schon anhand dieser 2010 in der Oper in Nowosibirsk entstandenen Aufnahme wiederum die Vielschichtigkeit in der Annäherung und der künstlerische Wille Teodor Currentzis‘ bestaunt werden. Opernhaft geht es hier zu, das Diesseits und Jenseits feiern zusammen die große Party, das Requiem ist bei Currentzis der letztgeborene musikalische Bruder von Don Giovanni. „Das jüngste Gericht in Sibirien“, hat die „Zeit“ 2011 getitelt. Ich finde nicht, dass Currentzis hier primär Extreme auslotet, er hält sich an die (von Süßmayr komplettierte) Partitur und die elementare Wucht des vertonten Textes. Wie ein Hexenmister animiert er das von ihm selbst zusammengestellte Orchester MusicaAeterna zu expressivem Spiel, den Sinngehalt jeder musikalischen Phrase in fluoreszierendes Licht tauchend. Der Zuhörer merkt, die vor allem aus Russland stammenden, im Stehen spielenden Musiker leben, essen und atmen zusammen. Wie bei jeder großen Interpretation kommt zur Genauigkeit ein hohes Maß an Durchhörbarkeit der Strukturen und ein dynamischer Feinschliff bis in die Mikrozellen der Musik hinein. The New Siberian Singers (Einstudierung Vyacheslav Podyelsky) sind wie bei Purcell, was Intonation, Sauberkeit der kleinen Noten, Balance der Stimmgruppen anlangt, zum Niederknien. Das Solistenquartett ist mit Simone Kermes (Sopran), Stéphanie Houtzel (Alt), Markus Brutscher (Tenor) und Arnaud Richard (Bass) erstklassig besetzt. Eine beseelte, flammende und zugleich hochspirituell-kompromisslose Lesart. Alle Originalklangapostel können wahrscheinlich nur staunen, wie rasch und wohin das Rad sich weiterdreht.
DMITRI SHOSTAKOVICH: SYMPHONY Nr. 14, OP. 135
„Der Tod ist groß. Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns“
Teodor Currentzis orientiert seine feine und in gedämpften Farben gehaltene Interpretation dieser berühmten überwiegend in Zwölftontechnik komponierten 14. Symphonie hörbar an der Sanglichkeit von Mahlers „Lied von der Erde“. Es ist „der andere“ Currentzis, der hier eine weitere Facette seines Könnens zeigt: Leise, fast mit britisch schlichter Eleganz, wird er dem klagenden Tonfall des Werks gerecht. Das für Kammerorchester, Sopran und Bass geschriebene, Benjamin Britten gewidmete Werk greift in seinen elf Sätzen Texte von Federico Garcia, Clemens Brentano, Guillaume Apollinaire, Wilhelm Kückelbecker und Rainer Maria Rilke auf. An der musikalischen Wiege sind neben dem Widmungsträger auch Stravinsky, Penderecki und Lutoslawski zu verorten.
Julia Korpacheva und Peter Migunov als herausragende Solisten singen nicht vordergründig expressiv, sondern erweisen vielmehr als intime Gefährten dem Meister ihre Reverenz auf seinem depressiven und bisweilen musikalisch sarkastisch kommentierten Lebensweg. Das Ensemble MusicaAeterna weiß nicht nur barock brillant aufzuspielen, sondern setzt auch hier die künstlerische Vision des Dirigenten kongenial in Klang um.
Fazit: Teodor Currentzis überrascht schon in seinen Anfängen auf Tonträger mit einer reifen und Ernst zu nehmenden künstlerischen Sicht. Gleichbleibende Konstanten sind die Vielseitigkeit, Unbedingtheit und Intensität seines Wirkens. Die drei gehörten CDs sind Plädoyers gegen das Mittelmaß, insbesondere die Schludrigkeit und Redundanz eines kommerzialisierten Musikbetriebs. Als sorgfältigst und penibel gearbeitete Studioaufnahmen brechen sie eine wichtige Lanze gegen schlampige Live-Mitschnitte. Die klassische Musik zu retten braucht Currentzis nicht, sie aber gehörig aufzumischen schadet nicht. Da darf man sicher noch auf einiges gespannt sein. Die Tonqualität aller Aufnahmen ist überragend. Anhören!
Dr. Ingobert Waltenberger