Premiere „Maria Magdalena“ von Friedrich Hebbel im Studiotheater Stuttgart – BLICK IN DEN ABGRUND. 5.3.2015
Premiere von Friedrich Hebbels „Maria Magdalena“ im Studiotheater am 5. März 2015/STUTTGART
v.li. hinten Reinhard Froboess, Lena Stamm, Boris Rosenberger, Felix Jeiter. Foto: Daniela Aldinger
Auch eine kleine Bühne kann große Theatermomente bieten. Dies zeigt Christof Küsters bemerkenswerte Inszenierung von Friedrich Hebbels „Maria Magdalena“. Reinhard Froboess als wandlungsfähiger Tischlermeister Anton macht drastisch deutlich, wie die konservativen Wertvorstellungen eines Vaters dessen Familie in den Abgrund stürzen. Die „Ehre der Familie“ wird in der suggestiv-dichten Regie von Christof Küster (Ausstattung: Julia Kopa) allen handelnden Personen rasch zum Verhängnis. Lena Stamm mimt die Tochter des Tischlermeisters sehr ausdrucksstark, die plötzlich von ihrem Verlobten Leonhard (undurchsichtig: Felix Jeiter) ungewollt schwanger wird. Der von Irfan Kars mit einfühlsamem Charakterisierungsreichtum dargestellte Sohn Karl wird als angeblicher Juwelendieb verhaftet. Die von Gundi-Anna Schick souverän gespielte Mutter („Die Welt wird immer klüger“) ist geschockt und stirbt daran. Im Hintergrund sieht man dann ihren Leichnam hinter einer Glaswand. Diese Situation gibt der gesamten Inszenierung eine gerade gespenstische Aura. Die Personen sprechen außerdem in herabhängende Mikrofone. Dies ist eine originelle Idee, die zu einer durchaus reizvollen akustischen Verstärkung führt. Überhaupt ist es Christof Küster geglückt, die psychologischen Spitzfindigkeiten in der Personenkonstellation erkennbar zu machen. Der verzweifelte Vater droht sich umzubringen, falls auch die Tochter der Familienehre nicht gerecht wird. Klara vertraut sich ihrem Jugendfreund Friedrich an, den Boris Rosenberger sehr beweglich verkörpert. Der entsetzte Friedrich kann ihr trotz seiner Liebe ebenfalls nicht helfen. Denn sie fleht Leonhard an: „Heirate mich.“ Doch Leonhard ist bereits ein fatales Verhältnis mit der „buckligten Nichte“ des Bürgermeisters eingegangen. Deswegen verlässt ihn Klara ultimativ.
von vorne nach hinten: Felix Jeiter, Reinhard Froboess, Lena Stamm, Irfan Kars. Foto: Daniela Aldinger
Die Inszenierung im Studiotheater untersucht, wo konservative Werte und Normen auch heute noch in solchem Maße vorhanden sind, dass sie zerstörerisch wirken. Der Familie wird die Luft zum Atmen geraubt. Der Satz „Wenn ich dann falle, wer fängt mich dann auf?“ wird grausame Wirklichkeit. Zuvor hat der Sekretär Friedrich Leonhard zum Pistolenduell gezwungen, bei dem Leonhard stirbt. Dies zeigt Christof Küster in atemlosen, bedrückenden und rasanten Szenen. Auch der Sekretär Friedrich ist so schwer verwundet, dass er schließlich stirbt. Zuvor hat er dem Vater vorgeworfen, dass die Schuld bei ihm selbst und bei Meister Anton liege. Sie hätten das Urteil der Leute über Klaras Schicksal gestellt. „Ich verstehe die Welt nicht mehr“, jammert Meister Anton zuletzt, bevor er zusammenbricht. Dies ist der stärkste Moment dieser elektrisierenden Inszenierung, die keinen Augenblick Langeweile aufkommen lässt. Lena Stamm lässt als Klara höchst plastisch und eindringlich deutlich werden, dass sie die Tochter eines starrsinnigen Vaters ist, die sehr unter dieser Situation leidet. „Sie ergab sich gewiss nur darein, um meine Vorwürfe zu widerlegen, denn sie war kalt gegen mich wie der Tod.“ Lena Stamm gestaltet die unglückliche Klara aber keineswegs herb, sondern oftmals sehr leidenschaftlich und berührend, was beim Premierenpublikum einen tiefen Eindruck hinterließ. Überleben kann hier einzig und allein der inzwischen vom Vorwurf des Juwelendiebstahls freigesprochende Sohn Karl, den Irfan Kars zuletzt hinter der Glaswand als einen Menschen darstellt, der sich bewusst wird, welche Katastrophe er überstanden hat. Hebbel, der hier Eindrücke verarbeitete, die er in seiner Münchner Zeit im Haus des Tischlermeisters Anton Schwarz empfangen hat, wollte zeigen, dass auch „im eingeschränktesten Kreise eine zerschmetterte Tragik möglich ist.“ Dies vermag der umsichtige Regisseur Christof Küster einfühlsam einzufangen. Zudem charakterisiert Küster das bigotte Wesen der „christlichen Familie“ gleich zu Beginn mit wahrhaft beissender Schärfe. Da kommen satirische Momente nicht zu kurz. Sie werden recht boshaft aufs Korn genommen, zumal seitlich einzelne Personen Spalier stehen – als anonyme Beobachter sozusagen. Solche ungewöhnlichen Regieeinfälle geben dieser Inszenierung den letzten Schliff. Laut Eduard Mörike war Hebbel ein „Glutmensch durch und durch“, bei dem jede Gefühlsäußerung erst durch verstandesmäßige Arbeit in die künstlerische Form eingeht. Dies macht Christof Küster sehr gut deutlich. Die erschütternde Tragik innerhalb eines sozial beengten Lebenskreises bricht hier gnadenlos durch. Entsprechend begeistert war der Schlussapplaus des Premierenpublikums.
. Entsprechend begeistert war der Schlussapplaus des Premierenpublikums für diese Inszenierung, die Alpträume eines Wohnzimmeridylls bestürzend einfängt.
Alexander Walther