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STUTTGART/Staatsoper: ACTUS TRAGICUS mit Musik von J.S. Bach

29.04.2014 | KRITIKEN, Oper

Actus tragicus“ als Wiederaufnahme in der Staatsoper Stuttgart – UND JESUS IST UNTER DEM HAUS BEGRABEN am 29.4.2014

„Actus tragicus“ mit Musik von Johann Sebastian Bach in der Staatsoper am 29. April 2014

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Foto: Thilo Nass

Diese Wiederaufnahme der Inszenierung des viel zu früh verstorbenen Regisseurs Herbert Wernicke macht die harmonisch vielschichtige Welt von sechs Kirchenkantaten Johann Sebastian Bachs lebendig. Plötzlich entsteht daraus eine Oper. Das ist spannend. Ein riesiges Puppenhaus beeindruckt das Publikum hier mit zwanzig Zimmern, die von 53 Bach singenden Menschen bewohnt werden. Ein Obdachloser kauert im Treppenhaus, ein Selbstmörder versucht sich aufzuhängen, eine schöne Frau schmückt sich vor dem Spiegel – und oben links bügelt eine andere Frau, rechts schauen zwei weitere Bewohner Fernsehen. Alles ist in ständiger fließender Bewegung, die Personen gehen auf und ab, mal langsamer, mal schneller. Einmal scheint das ganze Haus gespenstisch leer zu sein. Gleich einer Altartafel wird hier das Innere eines Mehrfamilienhauses aufgefaltet. Und im Keller liegt die Leiche Jesu, beschützt von einem geheimnisvollen Licht. Und oben im dritten Stock wird dann zur gleichen Zeit ein Kind geboren. Der Tod erscheint in schwarzem Anzug und schwarzem Hut sowie weißen Handschuhen und schleicht sich langsam an die anderen Figuren heran. Die Leiche im Keller wird schließlich einfach vergessen, der Tod ist in den Kammern, Zimmern und Treppenhäusern allgegenwärtig. Ein anderes Mal erscheinen alle Bewohner eng zusammengepfercht wie auf einem Fleck. Das ist ein beklemmendes Bild, das man nicht vergisst. Hier erreicht die Intensität von Herbert Wernickes Inszenierung ihren Höhepunkt. Dieses Welttheater aus Freuden und Verirrungen geht unter die Haut. Einmal trommelt der Tod sogar als Tödin – und alle lauschen erschreckt. Selbst das Liebespaar wacht plötzlich aus seinem erotischen Rausch auf. Zur Ouvertüre scheint sich das gesamte Haus zu bewegen, die Musik steht oft im direkten Widerspruch zur Handlung. Im Mittelpunkt des Geschehens steht jedenfalls immer wieder die erschütternde Obdachlosigkeit und Hilflosigkeit des Menschen. Rezitative und Arien der einzelnen Bach-Kantaten „Wo Gott der Herr nicht bei uns hält“ BWV 178, „Wer weiß, wie nahe mir mein Ende?“ BWV 27, „Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe“ BWV 25, „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig“ BWV 26, „Siehe zu, dass deine Gottesfurcht nicht Heuchelei sei“ BWV 179 und „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ BWV 106 (Actus tragicus) gehen nahtlos ineinander über. Die Cantus-firmus-Passagen der einzelnen Kantaten hört man angesichts dieser plastischen Inszenierung aber anders als sonst, Johann Sebastian Bachs Musik entfaltet eine erschütternde Wirkung. Der letzte gesungene Satz „Mensch, du musst sterben“ wirkt wie ein Gesang von Toten. Bachs ungeheure Schaffenskraft scheint hier szenisch unterstützt zu werden.

Das ist die große Stärke dieser szenischen Wiederaufnahme von Dirk Schmeding. Wie geschickt Bach die alte Vielstimmigkeit mit dem neuen harmonischen Stil zu höchster Vollendung brachte, wird auch an diesem Abend deutlich. Kontrapunktisch scheint alles in meisterhafter Weise verarbeitet zu sein, das macht das vorzüglich musizierende Staatsorchester Stuttgart unter der fulminanten Leitung von Michael Hofstetter einmal mehr klar. Der von Johannes Knecht wie immer sorgfältig einstudierte Staatsopernchor agiert mit polyphoner Größe und voluminöser Leuchtkraft. Dazu trägt auch das hervorragende Continuo-Ensemble mit Stephan Rath, Stefan Maass (Laute), Irene Klein, Helene Godefroy (Gambe), Michael Groß (Cello), Jörg Halubek (Cembalo) und Stephen Hess (Orgelpositiv) bei. Die ungeheuren Seelenkämpfe des echten Protestanten gehen jedenfalls auch musikalisch nicht unter, sondern werden eindringlich herausgearbeitet. Mystische Glaubenstiefe beherrscht auch die gesanglichen Leistungen von Josefin Feiler (Sopran I, Frau mit den roten Schuhen), Heike Beckmann (Sopran II, die Barmherzige), Josua Bernbeck (Sopran III, Junge mit dem Ball, Knabenchor Collegium Iuvenum Stuttgart), Kai Wessel (Alt I, Wäschefrau), Cristina Otey (Alt II, Frau mit den Büchern), Martin Petzold (Tenor I, Raumvermesser), Michael Nowak (Tenor II, Mann mit der Uhr), Shigeo Ishino (Bass I, der Kranke), Daniel Henriks (Bass II, der Blinde) und Philipp Körner als veritabler Kammer-Musiker. Bachs demütig-männliche Frömmigkeit wird bei der Aufführung aber keineswegs überzeichnet, sondern erhält die ihr gebührende Reife und Ausdruckskraft. Bachs Überzeug war es, dass „der Urgrund aller Musik nur in Gott ruhen konnte und durfte“.

Michael Hofstetter ist es als Dirigent gelungen, mit dem Ensemble diese Intention deutlich zu machen. Auch wenn Herbert Wernickes Inszenierung zuweilen die sphärenhaft-überirdische Aura zu fehlen scheint, strahlt der Zauber des unerschütterlichen protestantischen Chorals immer wieder hell auf. Die „musikalische Predigt“ begeistert so als fugen- und variationsfreudige Kunst. Selbst die niederländisch-englische Herkunft ist herauszuhören. Und da tönt aus dem Italien von Monteverdi und Gabrieli bis zu Corelli und Vivaldi die betörende Melodie wider, in der sich Sinnlichkeit, Kunst, Natur und Geist ideal vereinigen. Selbst der opernhafte Prunk der Orchestersprache sticht bei dieser Aufführung leuchtkräftig hervor. Sprühendes Konzertieren vermischt sich mit realistischer Tonmalerei. Eine Skala zwischen Schmerz und Freude beherrscht die Szenerie. Feierlicher Ernst und idyllische Lieblichkeit paaren sich in meisterhafter Weise. Szenisches Geschehen und Musik verbinden sich vollkommen. Das Tonmaterial wird bis in die letzten Tiefen durchforscht. Dass „der alte Bach“ (wie ihn „der alte Fritz“ bezeichnete) seinen Blick nicht nach vorn, sondern nach innen richtete, macht Herbert Wernickes Inszenierung und Michael Hofstetters musikalische Leitung glücklicherweise deutlich. Aus einer unergründlichen Tiefe strahlt der szenische Kosmos ständig anschwellend Ströme von Kraft aus. Eine Kraft, die die Qualität dieser ungewöhnlichen Produktion ausmacht. Die Melodie und ihre wechselnden Fortspinnungen beherrschen das Geschehen nicht nur musikalisch, sondern beeinflussen auch die Handlungsweise der Bewohner dieses Mietshauses – selbst in den Momenten elastischer Geschäftigkeit. Abgerissene Floskeln und instabile Harmonik unterstreichen wiederholt geschickt nicht nur die Situation des Selbstmörders, sondern auch der vereinsamten Menschen. Johann Sebastian Bach erscheint dabei wie ein moderner Komponist. Und bei der Kantate „Siehe zu, dass deine Gottesfurcht nicht Heuchelei sei“ beeindruckt der äusserliche Glanz der Sodomsäpfel als Gleichnis für die Falschheit der Heuchelei in der ersten Tenorarie mit bewegender Themengestalt. Eva-Mareike Uhlig arbeitete bei den Kostümen mit, Bühne und Kostüme stammen ansonsten von Herbert Wernicke. Ein großer Abend, der begeisterten Schlussapplaus erhielt, der auch die Statisterie einschloss.

 Alexander Walther

 

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