ELEKTRISIERENDES DUELL DER GESCHLECHTER
Premiere von Anna Katharina Hahns „Geschichte vom Schwarzen Berg“ am 25. April 2014 im Schauspiel Nord/STUTTGART
„Es war nicht dein Kind, Veronika!“ Auf diese Weise greifen sich Emil Bub (Deutschlehrer am Königin-Katharina-Stift in Stuttgart) und seine Frau Veronika (Bibliothekarin in der Stadtbücherei im Wilhelmsbau) gegenseitig an. Thomas Lawinky und Marietta Meguid bieten ein fesselndes Duell der Geschlechter auf einer breiten schwarzen Bühne, die der Regisseur Christoph Mehler mit den Ruinen einer großen Eiche und viel Erde füllt. Das „Beziehungsgequatsche“ dieses seltsamen Ehepaares erreicht erst langsam seinen Höhepunkt, denn zunächst häuft die Frau schweigend immer mehr Erde zu einem kleinen Berg auf, während ihr hysterischer Mann wütende rhetorische Wurfgeschosse gegen sie schleudert, von denen sie sich aber nicht beeindrucken lässt: „Lass das!“ Für Emil und Peter Bub ist der Nachbarsjunge Peter so etwas wie ein Ersatzkind. Beide leiden unter ihrer Kinderlosigkeit und ertränken den Kummer in Alkohol. Und Veronika hat auch überall herumerzählt, dass Peter ihr Kind ist – in Wahrheit ist er jedoch der Sohn von Hajo und Carla aus der Nachbarschaft. Die Spannungen zwischen den Eheleuten wachsen während der Aufführung ins Unermessliche, Erde wird wild herumgeschleudert, jeder will seinen Standpunkt um jeden Preis verteidigen. „Du bist krank!“ wirft Emil seiner wie apathisch wirkenden Frau vor. Man denkt zuweilen sogar an eine griechische Tragödie. Deutlich wird, dass Peter sich in der Zeit der Stuttgart-21-Proteste einen neuen Lebenssinn suchte. Das Jahr 2010 gerät hier zur magischen Zahl. Seither hat sich viel verändert – vor allem zwischen dem Ehepaar, das sich immer schärfere Vorwürfe macht. Man sinniert über Peters „ausgemergelten Männerkörper“ und seine möglichen Ursachen. Zuvor sind beide praktisch aus der Erde gekrochen, Emil klettert wie in einer Turnhalle an einer Leiter entlang, auf der er oben zusammengekauert liegenbleibt. Von dort aus kann er seiner Frau besser Vorhaltungen machen, die sie erst erwidert, als er wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgekehrt ist.
Anna Katharina Hahn hat ihren Roman als eine Wiederannäherung an Stuttgart beschrieben, was sich aber nicht immer deutlich genug erkennen lässt: „Es ist nicht zum Aushalten…“ Man erfährt, dass Peter seinen Beruf als Logopäde plötzlich zur Nebensache erklärt, um seinen kleinen Söhnen Abenteuer bieten zu können. Peter fällt in eine Depression, wird von seinem Vater Hajo, der Arzt ist, mit Antidepressiva behandelt und von seinem Nachbarn Emil in den Schlosspark entführt, wo ihn der Konflikt um Stuttgart 21 in heftiger Weise gefangennimmt. Bühne und Kostüme von Jochen Schmitt beschreiben das Geschehen durchaus eindringlich, als der Chor auftritt und „Oben bleiben!“ skandiert. Das kommt einem sehr bekannt vor. Trotzdem vermisst man bei der Handlung gelegentlich den roten Faden. Vor allem den angeblichen Heilungsprozess Peters will man nicht so recht glauben, weil die Spannungen zwischen dem Ehepaar auf der Bühne nicht nachlassen. Das wirkt aber auf der anderen Seite auch wieder ungemein aufregend und spannend. Musik und Komposition von Daniel Freitag sind in jedem Fall ein Gewinn für diese Produktion nach dem Roman von Anna Katharina Hahn, die als literarisches Nachwuchstalent gilt. Die Liebe zwischen Eltern, Partnern und Freunden steht dabei immer wieder eindringlich im Mittelpunkt. Dass der vermeintliche Vater an der Liebe zu seinen „Kindern“ zugrunde geht, kann Thomas Lawinky als Darsteller glaubwürdig verkörpern. Joanna Merete Scharrel hat den Chor vor allem bei den magischen akustischen Momenten sehr sorgfältig einstudiert. So ist ein berührendes Kammerspiel zwischen zwei Personen entstanden, die sich trotz allem nicht wirklich näherkommen.
Alexander Walther