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STUTTGART/Schauspiel Nord: DAS SCHWEIGENDE MÄDCHEN von Elfriede Jelinek. Premiere

18.04.2015 | Allgemein, Theater

Premiere von „Das schweigende Mädchen“ von Elfriede Jelinek im Schauspiel Nord

VIELE BEKLEMMENDE SITUATIONEN

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Foto: Ferhat Ayne

Premiere von „Das schweigende Mädchen“ von Elfriede Jelinek am 17. April 2015 im Schauspiel Nord/STUTTGART

Natürlich ist es ein gefundener Stoff für die auf schwierige Themen spezialisierte Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek. „Das schweigende Mädchen“ behandelt den seit Mai 2013 laufenden Münchner Prozess, in dem die schreckliche Mordserie des rechtsextremen NSU-Terrortrios der Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt (die 2011 Selbstmord begingen) sowie ihrer Komplizin Beate Zschäpe verhandelt wird. Elfriede Jelinek schreibt über dieses geheimnisvolle „schweigende Mädchen“, mit dem sowohl Beate Zschäpe als auch die in Heilbronn ermordete junge Polizistin Michelle Kiesewetter gemeint sein kann. Ein Fall, der die Gemüter in Deutschland seit Jahren in Aufruhr versetzt. Jelinek montiert hier sehr geschickt und virtuos Prozessprotokolle und Bibelstellen. Der laufende NSU-Prozess wird in der interessanten Regie von Alia Luque zum unheimlich-beklemmenden Jüngsten Gericht. Die Bühne von Christoph Rufer teilt den Raum in zwei große Hälften, die Zuschauer blicken durch einen Glaskasten und sehen zunächst viele vermummte Gestalten – allesamt Studierende der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart. Man meint, ein tristes Gebäude aus Rohbeton sowie einen schluchtartigen Sitzungssaal als Gerichtssaal wahrzunehmen. Allmählich legen die Darsteller hier ihre beengenden Gewänder ab und zeigen sich leicht bekleidet wie in einem Schwimmbad. Man begreift: Die schauerliche Geschichte der Zwickauer Zelle wird dabei zur Antithese der biblischen Heilsgeschichte.

Die begabte junge Regisseurin Alia Luque hat diese Theaterproduktion eindringlich mit Studierenden des dritten Schauspiel-Jahrgangs sorgfältig erarbeitet. Als „für Berufsrichter nicht mehr durchführbar“ wird dieser Prozess bezeichnet, der alle in ungeheuren Aufruhr versetzt. Man stellt sogar fest, dass der Richter nicht mehr sprechen könne. „Was in diesem Land stattfindet, ist immer außergewöhnlich“, heißt es. „Das Land schweigt wie dieses Mädchen“. Und weiter: „Das Außen wurde zu uns hereingeholt…“ Ja, man empfindet die Außeneinflüsse hier durchaus als höchst bedrohlich, was die hoffnungsvollen jungen Schauspielerinnen und Schauspieler Frederik Bott, Jessica Cuna, Alexey Ekimov, Lucie Emons, Laura Locher, Rudy Orlovius, Susanne Schieffer und Philipp Sommer in beklemmenden Situationen herausarbeiten. Dabei steigert sich die elektrisierende Handlung immer intensiver. „Was weiß er über den Mord?“ ist hier eine mehr als rhetorische Frage. Elfriede Jelinek lässt die Gewaltspirale zwischen den Personen eskalieren, es kommt zu Erschießungsszenen und heftigen verbalen wie körperlichen Kämpfen. Das Land habe sich mitschuldig gemacht, lautet die Devise. „Ja, wir sind frustriert!“ scheint der Chor den Zuschauern vorzuwerfen. „Dieses Land ist verlorengegangen“, bemerken vor allem die jungen Frauen, die sich gegen die Männerwelt zu behaupten wissen. Das ganze Land habe nichts gewusst – diese Bemerkung ist hier durchaus als Vorwurf zu verstehen. „Sie können sich an nichts erinnern…“, so donnert es in den imaginären Gerichtssaal. Der Zeuge habe angeblich nichts mitbekommen. „Die Bundesanwälte sollen sich erklären!“ lauten die weiteren Forderungen. Es gelingt den talentierten Darstellern, die Opfer lebendig werden zu lassen. Man meint bei der Aufführung, dass ihre Erscheinung an den Zuschauern vorüberzieht. Die Opfer waren Betreiber oder Mitarbeiter von Ladengeschäften und Verkaufsständen. Sie wurden bei der Arbeit ermordet. Auch der grauenhafte Sprengstoffanschlag im Januar 2001 in Köln wird hier plastisch dargestellt – die Explosionen scheinen den gesamten Raum zu erschüttern. „Ich bin die Auferstehung und das Leben“ – diese Bibelverse bohren sich den Zuschauern ins Gedächtnis, zumal sich die erschütternden Widersprüche nicht auflösen lassen. Engel, Propheten, Richter und Gott treten plötzlich auf und verwandeln die Bühne in ein erschütterndes Tribunal – gemahnend an Karl Kraus‘ „Letzte Tage der Menschheit“. Man weist empört auf die Leichen: „Durfte der getötet werden?!“ Das Land habe dies geschehen lassen. Dabei scheint sich der Strick zuzuziehen, die Menschen bekommen keine Luft mehr. Die Lebendigen und die Toten werden gerichtet. Aber zugleich heißt es: „Der Tote steht nicht mehr auf…“ Da bleiben alle völlig ratlos zurück. Aber sogar rhythmischer Witz ist in diese trostlosen Szenen von der wandlungsfähigen Regisseurin Alia Luque hineinkomponiert worden. So kommt es zu Hip-Hop-Tanzeinlagen, die den ganzen körperlichen Einsatz der Schauspieler erfordern. Man ist permanent auf der Suche nach dem schweigenden Mädchen, auf dessen Antwort man vergeblich hofft. Und die Kostüme von Ellen Hofmann passen sich der schlichten Gerichtsatmosphäre facettenreich an. Zuletzt stellt man ernüchtert fest: „Das Land hat keine Geduld…“ Das Ganze entpuppt sich plötzlich als banale und absurde Farce, die das Publikum aber mächtig verwirrt. Als weiteres Postulat steht immer wieder die Forderung nach mehr Mitgefühl für die Opfer im Raum, der sich allmählich in gespenstischer Weise zu erweitern und zu verzerren scheint. Die Darsteller ziehen sich wieder ihre Gewänder an, legen sich wie tot auf den Boden, schrecken wieder wie panisch auf. Die seit 2006 laufenden Ermittlungen nehmen hier gigantische Ausmaße an. Man begreift die fieberhafte Suche nach 3500 Spuren, 11.000 Personen und Millionen Datensätzen von Handys und Kreditkarten. Wie schnell Menschen Opfer von Vorverurteilungen werden, hat die Regisseurin Alia Luque in packende Bilder gepresst.

Und das Grauen beherrscht schon die erste Szene: Da verlässt ein V-Mann der rechten Szene jenes Internetcafe, in dem der Besitzer kurz zuvor kaltblütig erschossen wurde. Trotz der Schlichtheit des Bühnenbildes werden die verschiedenen Perspektiven des Geschehens so plastisch greifbar. Für die Darsteller gab es deswegen zuletzt begeisterten Beifall.

 Alexander Walther

 

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