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STUTTGART/Kammertheater/ Junge Oper: INTO THE LITTLE HILL von George Benjamin – „Der Tanzwut erlegen“. Premiere

11.06.2015 | Allgemein, Oper

Premiere „Into the Little Hill“ der Jungen Oper im Kammertheater Stuttgart

DER TANZWUT ERLEGEN
Eindrucksvolle Premiere der Jungen Oper mit „Into the Little Hill“ am 11. Juni 2015 im Kammertheater/STUTTGART
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Copyright: Christoph Kalscheuer

George Benjamins Oper „Into the Little Hill“ („Der Rattenfänger von Hameln“) ist die zweite Neuproduktion der Jungen Oper Stuttgart. Die Inszenierung von Jenke Nordalm ist in jedem Fall ein großer Wurf, denn es gelingt ihr, vor allem die Kinder in die komplizierte Partitur einzubinden. Da spürt man sofort die große Begeisterung. Diese „Lyrische Erzählung in zwei Teilen“ geht auf die berühmte Sage vom „Rattenfänger von Hameln“ zurück, die auf einer wahren Begebenheit beruhen soll. Im Jahre 1284 verschwanden über Nacht 130 Kinder aus der norddeutschen Stadt Hameln. Fragen drängen sich auf: Wurden die jungen Menschen wegen Nahrungsknappheit ausgesiedelt? Begaben sie sich auf einen Kinderkreuzzug? Einiges deutet darauf hin, dass sie der Tanzwut erlagen. Das unterstreicht die auf mystische Effekte Wert legende Inszenierung durchaus. Im Hintergrund sieht man eine geheimnisvolle Nebellandschaft, der die Kinder entsteigen.

Das Projektorchester der Jungen Oper ist in einem fast pyramidenförmigen Gestell untergebracht, der Dirigent Nicholas Kok wird von den beiden ausgezeichneten Nachwuchssängerinnen Marie-Pierre Roy und Nadia Steinhardt immer wieder aus- und angekleidet. Man begreift, dass das Verschwinden der Kinder in Zusammenhang mit einem um seinen Lohn geprellten Rattenfänger gebracht wird. Die beiden genialen Sängerinnen verkörpern hier sämtliche Partien des wertvollen, einfallsreichen Werkes – vom geheimnisvollen Rattenfänger über die vom Erfolg besessene Ministerfamilie bis zur rattenhassenden Volksmasse und den Erzählern. Die feinen Schattierungen zwischen Schuld, Notwendigkeit, Lüge und Wahrheit werden intensiv untersucht. Die Ministergattin fragt schließlich verzweifelt nach ihrem Kind. Als der Rattenfänger seinen Lohn einfordert, jagt man ihn fort. Und über Nacht verschwinden alle Kinder aus der Stadt.

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Copyright: Christoph Kalscheuer

Die Ausstattung von Vesna Hiltmann und  Christine Chu (Choreografie) spielt virtuos mit verschiedenen Stilmitteln – von Hausfassaden bis hin zu einer seltsam pendelnden Glasplatte, einer Art Zeitsymbol. Die Schauspielerin Julienne Pfeil schildert mit großer körperlicher Ausdruckskraft in einem Prolog das ungeklärte Verschwinden der 130 Hamelnder Kinder. Ein Denkprozess wird hier vor allem musikalisch in äusserst aufregender Weise in Gang gesetzt. Fragende, staunende und urteilende Kinder verschieben wiederholt die Gestelle. Sie sprengen die Weltsichten der Erwachsenen auf unberechenbare Weise. Es stellt sich die Frage, ob es sich dabei nicht sogar um Ratten handelt. George Benjamin und der Texter Martin Crimp versetzen die berühmte Sage in eine „Stadt am weißen Hügel“. Dort kämpft ein Minister um seine Wiederwahl. Er muss sich der Forderung des Volkes beugen, die lästigen Ratten zu beseitigen. Er engagiert einen mysteriösen Rattenfänger und prellt ihn um den vereinbarten Lohn.
Eigenartige Klangwelten mit extremen Klangfarben und expressiven Formen werden hier vom Dirigenten Nicholas Kok mit dem Projektorchester der Jungen Oper beschworen. Bassflöte, zwei Bassetthörner, Banjo und Zymbal zeigen immer wieder viele Facetten und Nuancen. In der extremen Verknappung auf acht Bilder kommt es zu schlaglichtartigen Situationen. Die Figuren befinden sich in Ausnahmezuständen. In der Beschränkung auf eine Sopranistin und eine Altistin ergeben sich großartige Freiräume, deren Radius sich immer mehr zu erweitern scheint. Das rhythmisierte Toben der Menge prägt sich bei den Zuschauern durch atemlose Läufe in den Streichern tief ein. Gelegentlich kommt es zu prickelnden Staccato- und Pizzicato-Sequenzen, die sich verdichten. Man hört das leise Getrippel der Ratten. Das Geschrei der Menge klingt im Kopf des Ministers verzerrt in den Bassetthörnern fort. Fallende Münzen sind hörbar im Cimbalom und der Mandoline. Man vernimmt auch das Pochen und Surren des Ministerherzens. Ganz entfernt hört man das englische Kinderlied „Tom, he was a piper’s son“ mit dem Refrain „Over the Hills and far away“. In kurzen Sechzehntelläufen kontern die Bassetthörner den Sog der Bassflöte in verzerrter Gestalt. Die beiden Bassetthörner spielen „non espressivo“ den geheimnisvollen Teppich der Nacht. Allmählich breitet sich die Erregung der Minister und Fremden wie ein Flächenbrand aus. Die beiden Sängerinnen sind handelnde Figuren und zugleich Erzählerinnen. Und jede Figur hat einen ganz eigenen musikalischen Charakter und Tonfall. Auffallend sind die enormen Intervallsprünge der beiden Sängerinnen – bis hin zu ganz extremen Spitzentönen. Eine metallisch geprägte Welt wird heraufbeschworen. Das Kind des Ministers insistiert in kurzen, abgehackten Phrasen. Das Schreien der Rattenmutter wird plötzlich eins mit seinem eigenen Schluchzen. Da scheint auf einmal die Zeit still zu stehen. Die Kinder leben ihre Tanzwut mit wirbelndem Glitzerschmuck aus. Im Programmheft melden sich die Kinder extra zu Wort: „Liebe Eltern, warum musstet ihr so großen Mist bauen? Bitte holt uns hier raus und wählt den Minister ab…“ Für alle Beteiligten gab es Riesenjubel (Dramaturgie: Barbara Tacchini). Dieses 2006 entstandene Werk des 1960 in London geborenen Komponisten ist deutlich von Olivier Messiaen beeinflusst, dessen Schüler er war. Dies hört man aufgrund der Hinzufügung kurzer Notenwerte heraus, die das traditionelle metrische System sprengen. Es kommt auch zu ostinaten Schichtungen nicht umkehrbarer Rhythmen sowie zu einer gewissen Undurchhörbarkeit der musikalischen Struktur.

 
Alexander Walther

 

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