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STUTTGART/Junge Oper im Kammertheater: ALICE IM WUNDERLAND von Johannes Harneit

02.06.2016 | Allgemein, Oper

Alice im Wunderland mit der Jungen Oper im Kammertheater Stuttgart – UND ALICE VERSCHWINDET IM HIMMEL

„Alice im Wunderland“ mit der Jungen Oper am 2. Juni 2016 im Kammertheater/STUTTGART „

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Viktoria Kunze (Alice), Taxiarchoula Kanati (Raupe). Copyright: Christoph Kalscheuer

Ein Walross! Ein Nilpferd! Nein! Eine Maus!“ Alice scheint sich irgendwann nicht mehr in der Tierwelt auszukennen. In der Oper „Alice im Wunderland“ von Johannes Harneit wird vom Projektorchester der Jungen Oper unter der einfühlsamen Leitung von Stefan Schreiber sehr klangfarbenreich musiziert. Und die Regie von Barbara Tacchini (Ausstattung: Vesna Hiltmann) passt sich dem Geschehen mit fesselnden visuellen Bildern und aufregenden Gedankenspielen an. Da sieht man zunächst eine schräge Wand, vor der die von Victoria Kunze mit leuchtkräftigen Kantilenen verkörperte Alice kauert und mehr oder weniger versonnen mit einer Puppe spielt, die sie später köpft und an einem Spieß vor sich herträgt. Alice fällt hier gleichsam in einen tiefen Schacht, der in der einfallsreichen Inszenierung wirklich sichtbar wird. Dort trifft sie auf viele sonderbare Tiere und Menschen, die immer nur verworrene Dinge reden. So fällt Alice immer tiefer und tiefer in ein Erdloch hinein. Das drückt sich auch in der Musik aus. Alle haben Angst, von der Königin ihres Landes unverzüglich geköpft zu werden, wenn sie nicht richtig funktionieren. Alice ihrerseits wächst, schrumpft und scheint sogar einmal fast im Tränensee jämmerlich zu ertrinken. Im Wunderland sind allerdings nur das weiße Kaninchen und der Hutmacher, die von Philipp Nicklaus und Adam Kim sehr wandlungsfähig gesungen und verkörpert werden, wirklich verrückt. Das „twinkle“-Motiv beim Hutmacher oder das markante „Zu spät“-Motiv des ewig gestressten Kaninchens mit der facettenreichen Passacaglia sind hervorragende harmonische Stilmittel, die sich hier tief einprägen. Dazu gibt es bei dieser Inszenierung wiederholt eine bestechende musikalische Charakterisierungskunst, der alle Sängerinnen und Sänger in ausgezeichneter Weise gerecht werden. Allen voran die koloraturensichere Königin von Alice Chinaglia, die übrigens auch die Taube verkörpert. Und der fulminante König von Karl-Friedrich Dürr begeistert ebenfalls mit des Bass-Baritons Grundgewalt. Dürr stellt zudem die Köchin mit viel Spielwitz und Hintersinn dar. Der Hutmacher sitzt hier für immer in einer grotesken Fünf-Uhr-Teegesellschaft fest, die mit einer ostinaten Rück-Musik aufwartet. Alice stößt dann in dieser gelungenen, aufregenden Aufführung irgendwann auf die Lösung der Rätsel des Wunderlandes.

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Viktoria Kunze (Alice), Philipp Kalscheuer (Weißer Hase). Copyright: Christoph Kalscheuer

Regisseurin Barbara Tacchini hat sich für die Lösung dieser Rätsel packende Bilder einfallen lassen, sie ist aber vor allem an den psychischen Zuständen der Figuren im Irrgarten der Gefühle interessiert. Alices Zeit im Wundergarten steht für eine wichtige Phase der Selbstbehauptung und des Erwachsenwerdens eines Teenagers. Wenn Alice bei Carroll in einen Schlaf fällt, entzieht sich ihr der Boden in der subtilen Inszenierung von Barbara Tacchini ganz allmählich und unaufhaltsam. Die Wand öffnet sich zauberhaft nach beiden Seiten – sie fällt dann geradezu in eine Fantasiewelt hinein. Man sieht das Orchester plötzlich auf der Bühne, es scheint fast den gesamten Raum auszufüllen. Das ergibt bei der suggestiven Aufführung geradezu elektrisierende Spannungsmomente. Alice stellt überrascht fest: „Wie seltsam, wie seltsam, wie sonderbar heut‘ alles ist!“ Als sie dann die Chance bekommt, endlich in den ersehnten Wundergarten zu gelangen, hat sich nach der zweiten Pause auch der Zuschauerraum verändert. Das Publikum hat auf Pappkartons Platz genommen. Und die Orchestermusiker sitzen auf einmal auf der Bühne, man sieht das Königspaar fulminant auf dem Thron sitzen, der mit der Außenwelt durch einen seltsamen Laufsteg verbunden ist. Das, was sie dort sieht, entspricht aber leider nicht dem erhofften Paradiesgarten, sondern einem Schreckensregiment mit der strengen und unberechenbaren Königin, die von Alice Chinaglia wirklich furios verkörpert wird. Alice wagt zuletzt aufzubegehren, kann sich dem tyrannischen Regiment aber nur durch eine radikale Flucht in die Höhe entziehen. An Seilen wird sie in die Höhe gezogen, bis sie im Nichts verschwindet. Diese Situation führt dann auch musikalisch zu einem rasanten Höhepunkt, wo der umsichtige Dirigent Stefan Schreiber nochmals alle Fäden in der Hand hält. Mit Bläser-Staccato und Pauken-Ostinato führt man hier die ganze Absurdität des seltsamen Gerichtssaals vor, Klarinetten-Intervalle und Glissando-Bögen der Streicher führen zu akustisch ganz neuartigen Hörerfahrungen, die sich den Stimmungen der Figuren minuziös anpassen. Tremolo-Momente der Streicher bestechen immer wieder mit erschreckender Präzision. Bekannte Volksmusik-Weisen wie „Hänschen klein“ oder „Alle Vögel sind schon da“ prägen sich den Zuhörern stark ein. Einmal fällt sogar Schnee, was eine entprechend irisierende Antwort im Orchester findet. In weiteren Rollen gefallen Taxiarchoula Kanati als Herzogin und Raupe, Pascal Zurek als Greif und Kröt, Maja Majcen Nadu als Maus und Carelys Carreras als Grinsekatze.

Der Projektchor imponiert in der Einstudierung durch Viktoriia Vitrenko aufgrund unmittelbarer gesanglicher Durchschlagskraft. Auffallend sind bei dieser Inszenierung von Barbara Tacchini vor allem die gut herausgearbeiteten nahtlosen Übergänge, die die einzelnen Szenen „Der Schacht“, „Alice kennt sich nicht mehr aus“, „Alice droht in ihren eigenen Tränen zu ertrinken und trifft auf die Maus“, „Alice im Haus des Kaninchens“ und „Die Raupe“ in geheimnisvoller Weise miteinander verbindet. Ein szenischer Gipfelpunkt folgt im dritten Akt bei der aufwühlenden Szene „Die Königin und das Croquetspiel“, wo das Kaninchen Alice von der Verhaftung der Herzogin berichtet. Sie hat die Königin geohrfeigt und soll geköpft werden. Als auch die Grinsekatze geköpft werden soll, begehrt Alice auf. Diese Szenen besitzen in Barbara Tacchinis temperamentvoller Regie eine beissende Ironie. Die Königin hält zuletzt in wahrhaft tyrannischer Weise Gericht und tobt nur noch herum. Da kann Alice Chinaglia ihren schauspielerischen Fähigkeiten freien Lauf lassen. Als Alice selbst als Zeugin gerufen wird, löst sich die skurrile Wunderwelt einfach in Luft auf. Barbara Tacchini ist es hier gelungen, scheinbar unmögliche Situationen sichtbar werden zu lassen (Choreografie: Ricardo Camillo; Dramaturgie: Jenke Nordalm). Victoria Kunze bringt die Sache als Alice letztendlich auf den Punkt: „So klein wie jetzt, will ich nicht sein! Irgendetwas interessantes wird bestimmt geschehen! Ich hoffe sehr, ich werde größer.“

Das ist sie im Laufe dieses interessanten Abends auch geworden, sie ist an ihrer Rolle gewachsen. Bedeutend sind auch die sich steigernden rhythmischen Attacken des Orchesterapparates. Stellenweise wünscht man sich von der Musik Johannes Harneits sogar noch mehr polyphone Präsenz. Der talentierte Komponist Johannes Harneit hat hier seine langjährige künstlerische Zusammenarbeit mit Barbara Tacchini und Stefan Schreiber übrigens fortgesetzt. Für das gesamte Ensemble gab es zuletzt großen Jubel. Man kann die zahlreichen Regenschirme nicht vergessen, die wie Pilze aus dem Boden sprießen. Immer präsent ist auch der Projektchor in der Seitenbalustrade.

Alexander Walther  

 

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