Stuttgarter Ballett: „BALLETTGALA zum 50.Todestag von JOHN CRANKO“ 30.6. 2023– ein chronologischer Querschnitt durch das Schaffen des bedeutenden Choreographen
Beeindruckendes Defilee von Compagnie und Schülern. Copyright: Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett
Cranko pur! Es war klar, dass zum Jubiläums-Jahrestag seines Todes nur er und keine anderen Choreographen-Götter, die er wohlwissend immer neben sich unterstützte, auf die Bühne kommen sollten. In Form einer Reise durch sein Schaffen in zeitlicher Reihenfolge, passend eröffnet (wie schon bei anderen Galas) durch Schüler aller Altersklassen der Ballettschule, auf deren Einrichtung zur Gewinnung des Nachwuchses für die Compagnie er hingearbeitet hatte und die nach seinem Tod nach ihm benannt wurde. Die von Schulleiter Tadeusz Matacz und seiner Frau Barbara zusammengestellten „ETUDEN“ boten wieder eine Leistungsschau vom anfänglichen synchronen Fußwippen bis zur Bühne diagonal weit durchmessenden Sprüngen. Daran angeschlossen folgte als „DEFILEE“ das nach Hierarchie-Stufen gegliederte Entree des Stuttgarter Balletts über eine breite Treppe.
Fünf Minuten hatte Intendant Tamas Detrich bekommen, um den Umbau auf der Bühne mit einigen Anmerkungen, Begrüßungen und vor allem Danksagungen an alle, die diesen Abend ermöglicht haben, zu überbrücken. Nicht zuletzt ein besonderer Dank an den Widmungsträger dieser Gala, ohne den wir heute so viel ärmer an menschlicher Vielfältigkeit im Bühnentanz wären.
So mancher im Publikum hatte sicher gehofft, an diesem Abend eine Ahnung von Crankos „Pagodenprinz“ zu bekommen, mit der er sich den Stuttgartern noch vor seiner Ernennung zum Direktor vorgestellt hatte, doch die choreologische Sicherung seiner Werke begann erst einige Jahre später nachdem er die einstige Tänzerin Georgette Tsinguirides zum Studium der sogenannten Benesh-Notation nach London geschickt hatte. Hebungen von Partnerinnen hatten ihn schon früh fasziniert und diesen die 1964 entstandene „HOMMAGE A BOLSCHOI“ gewidmet. Ein klassisches Beispiel, in dem Elisa Badenes und Jason Reilly mit einer Selbstverständlichkeit und Strahlkraft erkennen lassen, was Cranko in seinem weiteren Schaffen an Pas de deux-Kunst entfaltet hat.
Bevor es mit den 60er Jahren weiterging, gab es eine Besinnung an zwei Werke, die noch während Crankos Londoner Jahren in der ersten Hälfte der 50er Jahre entstanden waren und vor etlichen Jahren zu einem Abend zusammengespannt auch hier zu sehen waren. „PINEAPPLE POLL“ ist eine jener vergnüglich ironischen Komödien zu Musik des Operetten-Komponisten Arthur Sullivan, aus der Timoor Afshar als Uniform-stolzer Captain Belay, Aiara Iturrioz Rico als seine Verlobte Blanche und Anouk van der Weijde als dauerschnäbelnd insistierende Gouvernante Mrs Dimple ein Beispiel von Crankos schon früh sichtbar gewordener Erzählkunst liefern. Etwas, das er sowohl im komischen als auch im tragischen Gewand beherrschte wie der von ihm geliebte Shakespeare. Nicht nur separat, auch in unmittelbarer Kombination wie in „THE LADY AND THE FOOL“, aus der Friedemann Vogel und erstmals Matteo Miccini berührend und detailgenau brillant jenen Pas de deux servierten, in dem die beiden armen Straßenclowns Moondog und Bootface mit Witz und melancholischer Trauer um eine Rose kämpfen bis sie erkennen, dass ihr Reichtum nicht im Besitzen, sondern in fairer Teilung liegt.
Der Balkon-Pas de deux aus seiner ersten Stuttgarter Produktion „ROMEO UND JULIA“ eignet sich nun mal am besten als Ausschnitt für eine Gala, auch wenn er mangels Szenenaufbau ohne den Titel geben Hausanbau stattfinden muss. Die mit ihrer ganzen Erfahrung und Darstellungsreife glänzende Anna Osadcenko und der exakt und mit tiefem Gefühl mehr ernst denn charismatisch strahlende David Moore bieten eine durchaus individuell mit den choreographischen Freiräumen spielende Auslegung dieser berühmt gewordenen Liebesszene.
Das Wiedersehen von „OPUS 1“ (entstanden 1965) ließ den Wunsch aufkommen, dass es nach langer Pause unbedingt wieder ins Repertoire zurückkehren sollte. Stellt es doch mit dem in einheitlicher Schritt- und Gebärdenfolge geschilderten Leben eines liebenden Menschen von der Geburt bis zum Tod ein so zeitloses wie faszinierend bewegend abstraktes Kurzballett zu Anton von Weberns Passacaglia in d-moll dar. Marti Fernandez Paixa und Rocio Aleman debutierten darin wie das 12köpfige sie unterstützende Ensemble mit konzentrierter Ausdruckskraft.
Vielfältig virtuos: der Pas de huit aus „Der Nussknacker“. Copyright: Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett
Nach der ersten Pause gab es mit dem auch schon für die Ballettschule rekonstruierten Pas de huit aus dem 1966 geschaffenen „DER NUSSKNACKER“ eine mit Spannung erwartete Ahnung von Crankos Version des berühmten Stoffes, die leider keinen nachhaltigen Erfolg hatte und deshalb wohl auch nicht choreologisch festgehalten wurde. Vier Absolventen-Paare aus der Cranko-Schule präsentierten diesen Ausschnitt als sauberst erarbeitete Kombination aus feiner Paar-Führung mit ideenreicher Verschweißung von filigranen Linien und Spitzen-Leichtigkeit.
Der dreiteilige Pas de deux „AUS HOLBERGS ZEIT“ ist sicher das poetischste seiner heute noch bekannten Werke und zierte mit der musikalischen Einfühlsamkeit (Edvard Grieg) in Form von eingebauten Elementen darauf gründender historischer Tänze schon viele Galas. Die passend kühl ästhetische und lyrisch glänzende Veronika Verterich und der mit weicher Körpersprache und Wärme bestechende Marti Fernandez Paixa feierten damit eine bezaubernde Premiere.
Nicht mehr viel zu sagen gibt es zu den Handlungsdauerbrennern „“ONEGIN“, woraus Elisa Badenes und Friedemann Vogel einen bis ins Detail verinnerlichten Spiegel-Pas deux und der noch junge Gabriel Figueredo ein technisch wie interpretatorisch weiter verfeinertes Solo des Lenski zeigten, und „DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG“, aus der der bestechend spritzig gelaunte und sprung-intensive Ciro Ernesto Mansilla und die reichlich Krallen zeigende Agnes Su in einer speziell konstruierten Zusammenfügung von Trunkenheits-Solo und Kampf-Pas de deux, sowie ergänzt vom weiteren Stück-Personal im rasanten Finale für reichlich Begeisterung vor der zweiten Pause sorgten.
Dazwischen gelagert war noch das entzückende Tanzstück „SALADE“ von 1968, das unbedingt wieder den Sprung von der Schule in die Compagnie machen sollte. In phantasiereichem Kostüm-und Kopf-Aufputz bietet es zur unterhaltsamen, immer wieder ironisch schrägen Musik von Darius Milhaud vier jungen Tänzern, wie hier den mit reichlich Augenzwinkern und Vergnügen am Detail reussierenden Ruth Schultz, Farrah Hirsch, Aoi Sawano und Maceo Gerard, reichlich Gelegenheit einen Draht zum Publikum zu finden.
Aus den 1972 als Signaturstück und als Hommage an seine vier großen Star-Tänzer geschaffenen „INITIALEN R.B.M.E.“ erweckten die duftig präsente, einen Zauber auf Spitze bewirkende Elisa Badenes und der gesetzt beseelte Friedemann Vogel, umgeben von einem zwölfköpfigen Corps de ballet, das romantisch durchwehte Adagio zum tief gehenden Gedenken. Ein Beispiel für Crankos alle Wesenszustände an Natur-Schilderung und menschlicher Verhaltensmuster umfassende Gestaltungs-Kunst bietet immer wieder der aus diversen Preludes von Claude Debussy zusammengestellte Klavier-Zyklus „BROUILLARDS“ In drei Ausschnitten hatten Ciro Ernesto Mansilla, Matteo Miccini und Fabio Adorisio erheiternd exzentrische, an Crankos Vorliebe für Puppenspiele erinnernde Komik zu bieten, Mackenzie Brown und Daiana Ruiz den raschen Wechsel einer Freundschaft zwischen Sanftheit und Aggression mit einer Spur Koketterie über die Rampe zu bringen sowie Rocio Aleman die Zerrissenheit zwischen zwei Männern ( Clemens Fröhlich und David Moore) sicht- und fühlbar zu machen.
Enorme Pas de deux-Kunst: Anna Osadcenko und Jason Reilly. Copyright: Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett
„LEGENDE“, ein reifes Beispiel konzertanter Pas de deux Kunst (1972) zu Henryk Wienawskis gleichnamigem Bravourstück für Violine und Orchester, sorgte kurz vor dem Finale noch einmal für klassisches Hochgefühl und artistisch überhöhte Ballett-Kunst, wenn Jason Reilly die auch hier als gesetzte, wissende Tänzerin von sich überzeugende Anna Osadcenko mehrmals einarmig, zum Schluss mit einer gefühlten Ewigkeit mit gestählter Kraft in die Lüfte hebt.
Die größte Spannung lag über dem Schlussbeitrag, Crankos letzter Choreographie (UA 7.4.1973) namens „SPUREN“ zur ihn in ihrer Zwiespältigkeit sehr bewegenden Musik von Gustav Mahler (Adagio aus dessen unvollendeter 10.Symphonie). Etwa ein Drittel der nicht überlieferten Choreographie konnte nun mit Unterstützung der damals mitwirkenden Tänzer Marcia Haydée und Reid Anderson sowie Video-Aufnahmen rekonstruiert werden. Elisa Badenes schlüpfte in die Rolle ihrer prominenten Vorgängerin, Friedemann Vogel und Marti Fernandez Paixa übernahmen die Parts von Heinz Clauss, der sie aus ihrer leidvollen Vergangenheit in einem totalitären Staat rettete, und Richard Cragun, der ihre sie immer noch belastende Vergangenheit verkörperte. Auch hier stellte Cranko innovative Partnerschafts-Aufgaben in den Dienst außerordentlichen Erzähl-Willens. Dazu eine gegensätzliche Integration von Gruppentänzern als Repräsentanten einer geschützten Gesellschaft und am Ende als Gefangene im grellen Scheinwerferlicht mit Numerierungen auf ihren nackten Oberkörpern. Doch eine Lichtschneise auf der dunkel gewordenen Bühne verheißt die Hoffnung Freiheit. Eine hochaktuelle Materie, die im Griff von Mahlers bezwingender Musik gewaltig unter die Haut geht. Kaum zu glauben, dass dies vor 50 Jahren auf einige Ablehnung gestoßen ist. Der große Erfolg an diesem Gedenkabend sollte Anstoß dazu geben, wenigstens dieses Rudiment ins Repertoire zu integrieren.
Unter die Haut gehend: Elisa Badenes, Friedemann Vogel und Marti Fernandez Paixa in „Spuren“.Copyright: Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett
Nach gut 4 Stunden verneigten sich alle Beteiligten zusätzlich der auf die Bühne geholten Granden von damals, den Ballettmeistern sowie den Dirigenten Mikhail Agrest und Wolfgang Heinz, die das Staatsorchester Stuttgart mit Geschick und Einfühlung durch das stilistisch umfangreiche Pensum des Abends steuerten, vor dem im Hintergrund eingeblendeten John Cranko. Das Publikum tat es mit zuletzt stehenden Ovationen.
Udo Klebes