Stuttgarter Ballett: „DAS FRÄULEIN VON S.“ 29.3.2012 – Parallel statt integral:
Der Hofstaat in Aktion (Corps de ballet). Copyright: Stuttgarter Ballett
Auch die wiederholte Betrachtung von Christian Spucks neuestem Handlungsballett in alternativen Besetzungen bringt nicht mehr ans Tageslicht als die ersten beiden Vorstellungen und lässt weiterhin bedauern, dass ihn an diesem vielschichtigen Kriminalfall in Paris zur Zeit Ludwig XIV nicht mehr interessiert hat als das Geschehen im Schnelldurchlauf der wichtigsten Stationen von einer Erzählerin vorstellen und die Tänzer im weiteren Verlauf in Einheitsschwarz ein abstrahiertes Eigenleben führen zu lassen. Dass die meiste Spannung von dieser Führerin, der wiederum zwischen hämischer Freude und kindlicher Neugier schillernden, unermüdlich über die Bühne und um das Personal herum wuselnden Mireille Mossé ausgeht, zeigt erneut die Problematik dieser Schöpfung. Außer Cardillac, den Roland Havlica mit der Getriebenheit eines Täters, der Angst vor sich selber hat, erschreckend expressiv charakterisieren darf und damit auch überzeugt, haben alle weiteren maßgeblich an den Vorgängen beteiligten Personen lediglich die Funktion, die prachtvollen, phantasievoll kreierten historischen Kostüme von Emma Ryott zu tragen, auszustellen und in knappen Bewegungen eine gute Figur zu machen. Welch enormem Druck das heimliche Liebespaar Madelon-Olivier ausgesetzt ist, dürfen die beiden nicht zeigen; Elizabeth Mason und Alexander Jones entsprechen aber im Wesen und Körpersprache der anmutigen herzensschwachen Goldschmieds-Tochter und dem standhaften Gesellen und setzen Spucks sportiven Stil fließend um, zu dem wiederum die typisch betonten und eckig abgewinkelten Armbewegungen gehören. Die Vertreter der hochoffiziellen Aufklärungs-Kampagne der Juwelenmorde werden solcherart kurz vorgestellt: Roman Novitzky, dem es in wenigen Momenten gelingt, als Chambre ardente-Präsident La Regnie den Genuss des Machtbewußtseins durchschimmern zu lassen, dem ganz exakten und strengen Nikolay Godunov als Detektiv Degrais und Damiano Pettenella als undurchdringliche scheinendem Polizeiminister Argenson.
Brent Parolin als Rechtsanwalt Dandilly und Jesse Fraser als Graf Miossens, der Cardillac in Notwehr getötet hat und mit seinem Geständnis Olivier vor dem Galgen rettet, können nur in Kurz-Auftritten (vor allem zweiterer mit gewinnender Ausstrahlung) auf sich aufmerksam machen ohne die Funktion ihrer Rollen deutlich werden zu lassen. Daniel Camargo bildet als Ludwig XIV im golden glänzenden Ornament ein bildschönes Gemälde-Portrait, aber auch das eines überforderten Teenager-Königs. Sie kann es zwar nicht annähernd mit der leuchtenden Präsenz der Premierenbesetzung Marcia Haydée aufnehmen, aber für die als wichtigste Figur der Geschichte enttäuschend unterbeschäftigte königsnahe Dichterin Madeleine De Scudery ist Ludmilla Bogart allemal eine genügend erfahrene Charakter-Darstellerin. Die vier Juwelen in ihren mit echten Swarowski-Perlen bestickten und glitzernden Tutus, die Cardillac aus seinen Schaukästen nimmt und sich als Tänzerinnen entpuppen, werden diesmal von Hyo-Jung Kang (Diamant), Rachele Buriassi (Rubin), Miriam Kacerova (Saphir) und Elisa Badenes (Smaragd) technisch ebenbürtig zum Leben erweckt.
Das musikalische Changieren zwischen Schumann-Quartett-Sätzen und unheimlich dräuenden elektronischen Collagen von Martin Donner sorgt im ersten Teil immerhin für eine Wechselwirkung aus Vergangenheit und Gegenwart, und im zweiten Teil treiben Philipp Glass und Michael Torke-Kompositionen den Tanz soweit voran, dass sich beides sehr musikalisch deckt. Das Staatsorchester Stuttgart hatte unter der Leitung von Wolfgang Heinz jedenfalls nicht unerheblichen Anteil an der aufregenden Betriebsamkeit des letzten Teils, der mit der angedeuteten Ermordung der sich zu sehr einmischenden Erzählerin und ihrerseits mit einem erstickenden hämischen Schrei abrupt endet.
Es bleiben viele offene Fragen, aber auch die nicht zu verachtende Honorierung einer Symbiose von Musik und Tanz, die auch ohne erkennbare Bedeutung beeindruckt.
Udo Klebes