Stuttgarter Ballett- „ALICIA AMATRIAIN“ – ungewöhnliches Ende einer Tänzerkarriere
Alicia Amatriain als Tatjana in „Onegin“ mit Evan McKie (2012). Foto: Stuttgarter Ballett
Gut zwanzig Jahre lang prägte Alicia Amatriain als Primaballerina maßgeblich die Intendantenzeit von Reid Anderson, der die aus dem Baskenland stammende Tänzerin 1998 aus der John Cranko-Schule ins Ensemble aufgenommen hatte. Innerhalb von vier Jahren eroberte sie sich mit ihren außergewöhnlichen körperlichen Fähigkeiten die Position einer Ersten Solistin und nahm mit ihrem Ehrgeiz und ihrer grenzenlosen Hingabe an schwierigste Herausforderungen bald eine herausragende Stellung innerhalb der Compagnie ein. Ihr Repertoire kannte keine Grenzen und deckte vom klassisch-romantischen Ballett der ersten Stunde über die Neoklassiker, die Moderne, bis zu teilweise auf ihre speziellen Möglichkeiten hin konzipierten Uraufführungen das ganze Spektrum der Ballettgeschichte ab.
Der Ruhm eines Spitzenplatzes gebührt der 2015 zur Kammertänzerin ernannten Künstlerin vorderhand für die Interpretation moderner Klassiker sowie gezielt auf ihre immer wieder Staunen erregt habende Biegsamkeit hin entworfene Choreographien (allen voran Christian Spucks „Lulu“ und Itzik Galilis „MonoLisa“). In den großen Klassikern wie „Giselle“, „La Sylphide“, „Schwanensee“ und „Dornröschen“ hatte sie in einigen dafür noch idealer prädestinierten Kolleginnen zumindest starke Konkurrenz. In den bedeutenden Dauerbrennern von John Cranko und John Neumeier entwickelte sie eine starke interpretatorische Reife, die allerdings phasenweise von einer Neigung zur Manieriertheit begleitet war.
Nicht nur bei den zahlreichen Gastspielen in aller Welt, auch durch davon unabhängige Einladungen zum World Ballet Festival in Japan oder der von Roberto Bolle initiierten Galas der Tanzsuperstars manifestierte sich ihr internationaler Ruf als bedeutende Künstlerpersönlichkeit des Tanzes.
Desweiteren markieren zahlreiche Auszeichnungen wie der Prix Benois de la Danse, der Theaterpreis „Der Faust“, der Deutsche Tanzpreis, der Premio Apuliarte und der Positano Premio la Danza ihre bedeutende Stellung in der Tanzwelt. Kurzfristig kam anlässlich ihres Abschiedes nun noch der erstmals vergebene Birgit Keil-Preis hinzu. Amatriain war 1996 die erste Stipendiatin der von der ehemaligen Stuttgarter Primaballerina gegründeten Tanzstiftung.
Nach der Geburt ihrer Tochter im März 2020 wurde auch in ihrem schon reifen Ballerinen-Alter mit der Rückkehr auf die Bühne gerechnet, auch deshalb, weil eine Tänzerin ihres Kalibers nicht sang- und klanglos aus dem Berufsleben abtritt. Doch eine Hüftoperation vereitelte den Wiedereinstieg und beendete damit unfreiwillig jede weitere tänzerische Aktivität. Die Reduzierung künftiger Einsätze auf das Charakterfach dürfte nicht in ihrem Bestreben liegen, das Angebot für eine führende Stellung in der John Cranko-Schule lehnte sie mit der Entscheidung ab, künftig ganz Mutter sein zu wollen. So gesehen ein klarer und entschiedener Entschluss.
Natürlich ist es bedauerlich, vielleicht auch schmerzhaft zum Abschied nicht noch einmal in die geliebte Rolle der Tatjana in „Onegin“ schlüpfen zu können, aber eine zu ihren Ehren angesetzte Vorstellung dieses Cranko-Balletts bietet einen würdigen Rahmen, in dem ihr ihre KollegInnen auf der Bühne und das Publikum nach Ende der Aufführung Reverenz erweisen und gebührend DANKE sagen können. Alles Gute für die Zukunft!
Udo Klebes