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STUTTGART/ Staatsoper: PIQUE DAME – Umbau der Zeitebenen. Premiere

11.06.2017 | Allgemein, Oper

STUTTGART: PIQUE DAME von Peter Tschaikowsky in der Staatsoper Stuttgart

UMBAU DER ZEITEBENEN

Premiere „Pique Dame“ von Peter Tschaikowsky am 11. Juni 2017 in der Staatsoper/STUTTGART

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Copyright: A.T.Schaefer

Jossi Wieler und Sergio Morabito legen in ihrer Inszenierung großen Wert auf ein Bühnenbild, das sich immer draußen befindet und keinen Innenraum besitzt (Bühne und Kostüme: Anna Viebrock). Auf einem sich ständig bewegenden Bühnenrondell wird das Elend der damaligen russischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert facettenreich reflektiert. German fühlt sich als Protagonist von Puschkins gleichnamiger Erzählung hier ständig von einem Geist verfolgt. Es ist der Geist der alten Gräfin, die in ihrer Jugend als „moskowitische Venus“ am französischen Hof Furore machte. Dabei soll sie das Geheimnis dreier unfehlbarer Spielkarten mitgebracht haben. Immer mehr verdängt in Germans Seele der erträumte Sieg im Glücksspiel die erotische Erfüllung seiner Liebe zu Lisa und führt ihn dann erst in den Wahnsinn und letztendlich in die tödliche Liebesumarmung mit der alten Gräfin. Das Geschehen ist auch bei Jossi Wieler und Sergio Morabito nicht mehr unbedingt realistisch. Alle Figuren stürzen geradezu kopfüber aus ihren sozialen Zusammenhängen. Es kommt zu einem radikalen Umbau der verschiedenen Zeitebenen wie in einem fiktiven Kolportageroman. Wir befinden uns als Zuschauer auch in einer Zeitkapsel. Und die Wege der Heimatlosen kreuzen sich im zeitlosen Raum eines Petersburger Elendsviertels. Der Amoklauf des ausgehungerten Studenten German wird grenzenlos überzeichnet, bleibt hier aber immer spannend. Dieser steht Dostojewskijs Jünglingen viel näher als der Figur der literarischen Vorlage. Die tote Gräfin taucht immer wieder in gespenstischer Weise auf, treibt German schließlich in den Tod. Beim Kartenspiel erscheint zuletzt Fürst Jeletzki, um sich für den Tod Lisas zu rächen, die wegen German Selbstmord begangen hat. German verliert, da er statt auf das As auf die Pique Dame setzt. Doppelgänger aus einer anderen Zeit scheinen sich zu vermischen. Die Zuschauer werden unmittelbar mitgerissen von der Obsession Germans für die unheimliche Gräfin.

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Helene Schneiderman, Rebecca von Lipinski, Erin Caves. Copyright: A.T.Schaefer

Das ganze Stück ist als „Schwarztreppen-Roman“ inszeniert worden, das historisierende Dekor ist Teil einer Maskerade, die zum Spuk wird. Das sind die stärksten Bilder. Die Welt Dostojewskijs hat hier tiefe Spure hinterlassen. Und die Wahnvorstellungen des Helden manifestieren sich in einer suggestiven leitmotivischen Technik, die der Dirigent Sylvain Cambreling mit dem Staatsorchester Stuttgart souverän herausarbeitet. Breite und schön geschwungene Kantilenen kommen so den Sängern zugute – allen voran Erin Caves, der als German ein überzeugendes Rollenporträt bietet. Das Vorspiel mit seinen zwei Motiven wirkt bei dieser subtilen Wiedergabe stets erhitzt und glutvoll. Liebesleidenschaft und Spielleidenschaft kreuzen sich eindrucksvoll. Und das Drei-Karten-Motiv kehrt in vielfältiger Weise immer wieder. Der Halb- und Ganztonschritt abwärts und aufwärts hinterlässt hier starke klangliche Spuren. Auch beim Thema der Liebessehnsucht nimmt Cambreling in ausgezeichneter Weise auf die Sänger Rücksicht, was sowohl der von Helene Schneiderman durchaus dämonisch dargestellten Gräfin als auch der völlig verzweifelten Lisa von Rebecca von Lipinski zugute kommt. Rhythmisch und melodisch bewältigen auch Vladislav Sulimsky als Graf Tomski, Shigeo Ishino als Fürst Jeletzki und Torsten Hofmann als Tschekalinski ihre Rollen vorbildlich. Die bunte Belebung des ersten Bildes zeichnet das Duo Wieler/Morabito mit visuell bewegender Intensität nach, was insbesondere die großen Chorpassagen betrifft, wo der Staatsopernchor mit großer gesanglicher Leidenschaft agiert (Einstudierung von Chor und Kinderchor: Johannes Knecht). Kinder, Wärterinnen, Ammen und Gouvernanten wirbeln nur so durcheinander, schaffen eine geradezu atemlose Atmosphäre. Beamte, Offiziere und Liebespärchen ergänzen den bunten Reigen in atemloser Bewegung, die gut zum harmonischen Geschehen passt. Da haben Jossi Wieler, Sergio Morabito und Sylvain Cambreling gut zusammengearbeitet. Das Arioso Germans wird von Erin Caves mit vielen Klangschattierungen in bewegender Weise getroffen. Bei der zweiten Szene des ersten Aktes erhält Lisa in der Darstellung von Rebecca von Lipinski ungemein starkes Profil. Beim Duett mit der Freundin fällt der Chor der übrigen jungen Mädchen mit reizvoller russischer Folklore ein. Maria Theresa Ullrich überzeugt dann als empörte Gouvernante. Der Septimensprung zu Beginn der Ermahnung zeigt viel Humor. Das sanft klagende Motiv in der anschließenden Liebesszene zwischen Lisa und German besticht durch formale Klarheit und starke Ausdruckskraft sowie intensive gesangliche Bewegung. Die alte Gräfin in Gestalt von Helene Schneiderman erscheint als Hexe und Mumie, die German völlig um den Verstand bringt. Gleichzeitig wirbt Shigeo Ishino als Jeletzki einfühlsam um die Liebe seiner Braut Lisa. Das Schäferspiel mit Mozart-Anklängen inszenieren Jossi Wieler und Sergio Morabito in Stuttgart sehr opulent und visuell beweglich. Nach der Sarabande melden sich nuancenreich „Zauberflöten“-Anklänge. Kaum nimmt man wahr, dass German dabei den Schlüssel zum Gemach der Gräfin empfängt. Die Szene bei der alten Gräfin gerät bei dieser Inszenierung zum glaubwürdigen Herzstück des Geschehens. Ein Terzenmotiv in Gegenbewegung erinnert an Mendelssohn. Helene Schneiderman gedenkt hier mit keineswegs brüchiger, sondern schlanker und melodramatischer Stimme der ruhmreichen Zeiten, wo sie vor hohen und höchsten Herrschaften auftrat. Es erklingt zart ein Lied, das Tschaikowsky der Oper „Richard Löwenherz“ von Gretry entnommen hat. Germans Drei-Karten-Motiv bestimmt wieder mit dämonischer Eindringlichkeit die Szene, die sich dramatisch immer mehr verdichtet. Er umarmt sie, es kommt fast zu einer Liebesszene, die Gräfin lacht – und bricht dann tot zusammen. Der Erpresser kann ihr das Geheimnis der drei Karten nicht mehr entreissen. Im Kasernenzimmer wird German von schrecklichen Liebesqualen und Spielleidenschaft gepeinigt, während draußen ein Sturm heult und den Raum flackernd erleuchtet. Erin Caves hat hier nochmals einen starken Auftritt. Bei der nächsten Szene, die eigentlich an einem Kanal in der Nähe des Winterpalais‘ spielt, ändert sich die Bühne nicht. Im vierten Akt brilliert nochmals Rebecca von Lipinski als Lisa, die German in einem sehnsuchtsvollen Arioso erwartet. Mit seiner Rohheit treibt German Lisa in den Selbstmord, die sich mit einem Aufschrei von der Zinne stürzt.

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Copyright: A.T.Schaefer

Hektisch und atemlos erscheint dann die Szene im Petersburger Spielclub. Der Wechsel vom Zweiviertel- zum Dreivierteltakt gerät dem Staatsorchester unter Sylvain Cambreling durchaus schwungvoll, Pfiffe und Schreie verstärken das heillose Durcheinander. Stark wirkt hier noch einmal der letzte szenische Auftritt der Gräfin und Lisas, die als Tote German in einem unheimlich erleuchteten Schrein mit sich nehmen. Trotz des doch recht schlichten Bühnenbildes von Anna Viebrock gelingen Jossi Wieler und Sergio Morabito dabei nochmals eindrucksvolle Bilder.

In weiteren Rollen fesseln noch Stine Marie Fischer als überaus temperamentvolle Polina und Yuko Kakuta als gewiefte Mascha sowie David Steffens als Surin und Michael Nagl als ausdrucksstarker Narumov. Jubel und großer Schlussapplaus – auch für das Regieteam.

Alexander Walther

 

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