1980 war diese Inszenierung des „Freischütz“ von Achim Freyer zum ersten Mal zu sehen. Jetzt ist sie unter der szenischen Leitung von Verena Stoiber wieder neu zu erleben. Im Mittelpunkt dieser rustikalen Aufführung steht nach wie vor die Wolfsschluchtszene, die wie ein Gemälde von Hieronymus Bosch wirkt. Kristian Metzner kann hier als gespenstischer Samiel dem Publikum wahre Gruselschauer über den Rücken jagen. Auch die religiösen Aspekte mit dem von Matthias Hölle eindringlich verkörperten Eremiten kommen dabei nicht zu kurz. Wie der alte fürstliche Förster Kuno (facettenreich: Karl-Friedrich Dürr) Max (ein passables Rollendebüt: Matthias Klink) seine Tochter Agathe (wandlungsfähig: Catriona Smith) zur Frau geben will, wird hier nicht ohne Ironie gezeichnet. Mark Munkittrick stellt dabei klangfarbenreich den boshaften Rivalen Kaspar dar, der ebenfalls ein Auge auf das Mädchen geworfen hat.
Die dramaturgischen Verwicklungen spitzen sich so rasch zu. Max ist zwar ein erfolgreicher Schütze, aber ihm fehlt momentan Glück und Energie, um einen guten Probeschuss durchzuführen. Kaspar verführt ihn bei dieser Aufführung mit deutlicher Dämonie, sogenannte Freikugeln zu gießen, wovon sechs unfehlbar treffen, die siebte aber zum Teufel gehört. Diese Kugel soll das arme Mädchen treffen, wodurch Max in Verzweiflung gerät. Gerade dieser Aspekt kommt bei der subtilen Inszenierung von Achim Freyer grell zum Vorschein. Der unheimliche Quartsextakkord sticht messerscharf hervor. Und es kommt anders, weil der Himmel es so will: Auch Kaspar wird von der Kugel getroffen, fährt jedoch zur Hölle. Max und Agathe hingegen werden gerettet. Das alles erzählt Freyer in zwar nostalgischen, glücklicherweise jedoch nie wirklich sentimentalen Bildern. Ganz zu Beginn ist sogar ein Monolog des Eremiten aus Johann Friedrich Kinds „Freischütz“-Stück nach dem „Gespenster-Buch“ von Johann August Apel und Friedrich Laun zu hören – abweichend von Carl Maria von Webers Vorlage. Die ergreifende Anbetung Gottes steht dabei im Mittelpunkt. Zuletzt feiert die ganze Gesellschaft in einer Art Pyramidenform die Errettung von Max und Agathe. Alexander Hajek thront als regierender Fürst Ottokar mit sonorem Bariton über dem Geschehen. Puppen und Spiel fügen sich unter der souveränen Leitung von Adelheid Kreisz nahtlos in die Handlung ein. Lauryna Bendziunaite vermag als Ännchen bei der Romanze „Einst träumte meiner sel’gen Base“ Agathe gekonnt aufzuheitern.
Schlussszene mit dem Eremiten. Foto: A.T. Schäfer
Der umsichtige Dirigent Timo Handschuh arbeitet mit dem konzentriert agierenden Staatsorchester Stuttgart die Bezüge zu Mozarts „Zauberflöte“ und zu Beethovens „Fidelio“ deutlich heraus. Der Staatsopernchor agiert bei den Jägerchorszenen unter der einfühlsamen Leitung von Klaus Kächele exzellent. Und Johannes Knecht leitet den Staatsopernchor wie gewohnt souverän. Es fällt vor allem auf, wie kontrastreich und nuancenreich Achim Freyer die Charakterisierung der einzelnen Personen betont. Dabei steht das Naturidyll immer wieder im Zentrum des Geschehens. Kaspars Rachepathos kommt dank Mark Munkittrick überzeugend zum Vorschein – die Nähe zur italienischen Oper neapolitanischer Prägung bleibt spürbar. Tremolo-Akzente des Orchesters unterstreichen famos die gespenstische Atmosphäre. Neuartige Elemente im Orchester sprechen die Zuhörer dank Timo Handschuhs souveräner Leitung immer wieder direkt an, und auch die Klangsprache französischer Opernkomponisten wie Mehul ist versteckt herauszuhören. Tiefe und höchste Lagen der Holzbläser, gestopfte Horntöne und Motivwiederholungen unterstreicht der Dirigent mit dem Orchester eindringlich. Der Zauber leitthematischen Denkens ist so nicht nur in der Musik, sondern auch in der Inszenierung immer spürbar. Gerade die Adagio-Einleitung zeigt das Talent Timo Handschuhs, romantisch vielschichtige Stimmungen hervorzuzaubern. Madeleine Przybl ist es möglich, mit ihrer intensiven Solo-Bratsche die Zuhörer zu betören. So fühlt man sich sofort in den geheimnisvollen Hochwald versetzt. „Nie hat ein deutscherer Musiker gelebt“, meinte einst Richard Wagner über Carl Maria von Weber. Und Achim Freyer zeigt bei seiner Inszenierung diese spezifisch „deutschen“ Momente höchst ungekünstelt und auch fast schon satirisch. So gerät die langsame Einleitung unter Timo Handschuhs Dirigat zu einer wirklich konzentrierten Naturschilderung, die von elektrisierender Wirkung ist. Aus zartem Pianissimo erheben sich die gefühlvollen Akkorde der Hörner als facettenreiche Beschreibung der Abenddämmerung im Walde. Ein düsteres Tremolo und ein dumpfes Pochen der Pauke – und schon ist die friedvolle Stimmung nicht nur im Orchester, sondern auch auf der Bühne verflogen. Die Gewitterschwüle des leidenschaftlich bewegten Allegros beherrscht dann auch nahezu atemlos das wild brausende Bühnengeschehen – und dies nicht nur bei der grausigen Wolfsschluchtszene. Der strahlende Hornakkord unterstreicht bei dieser Wiedergabe die wilde Erregung. Und in lichter Verklärung meldet sich die Klarinette. Angstvolle Elemente drängen sich vor. Das Kämpfen der hellen und dunklen Mächte ist aber auch besonders auf der Bühne aufgrund eindringlicher Lichteffekte zu spüren. Unheimlich drohend erscheint dabei das Spiel der Posaunen. Die Gestalt Samiels spukt herum. Der Schlusshymnus am Ende der Oper gelingt dem gesamten Ensemble allerdings vortrefflich. In weiteren Rollen gefallen Thomas Elwin als Kilian, Henrik Czerny und Kenneth John Lewis als die beiden Jäger sowie die stimmlich stets gut aufeinander abgestimmten Brautjungfern Fanny Kampmann, Carolin Lauster, Catharina Steck-Heller, Dagmar Würthen, Silvia Kaiser, Pia Liebhäuser und Gudrun Wilmig. Die temperamentvollen Musikanten Daniel Kaleta, Johannes Petz und Alexander Efanov heizen die Atmosphäre bis zum Siedepunkt an. Und auch die beiden Schankmädchen Birte Kessler und Jutta Müller besitzen profunde gesangliche Akzente. Neben dem Staatsoperchor gewinnt ebenso der Kinderchor der Oper Stuttgart Format.
Der einzige Mangel dieser gelungenen Inszenierung sind vielleicht die szenischen Durchgänge, die bei einigen Details noch fließender hätten sein können. Trotzdem: Diese an die Welt E.T.A. Hoffmanns gemahnende Aufführung kommt beim Publikum bestens an. Und ein leibhaftiger Hund sorgt auf der Bühne für Amüsement. Über allem wacht das Auge Gottes.