Gewaltig unter die Haut gehend: der Staatsopern- mit Extra- und Kinderchor Foto: Matthias Baus
Stuttgart
„BORIS (GODUNOW)“ 7.2.2020 (Premiere 2.2.2020) – Verwirrung statt Erhellung
Wie bereits der Titel zeigt, haben wir es bei dieser Neuinszenierung von Modest Mussorgskis populärstem Volksdrama mit keiner gewöhnlichen Wiedergabe zu tun. Ohne noch Näheres darüber zu wissen, könnte die Vermutung entstehen, dass es in erster Linie gar nicht um das Werk, sondern um eine Benutzung dessen für ganz andere Zwecke geht. Wer das 1869 uraufgeführte Epos und seine gewiss abendfüllende Substanz kennt, darf sich mit Recht vorab wundern, wie es da noch eines Zusatzes bedarf. Eines Zusatzes allerdings, der nicht getrennt daneben gestellt, vielmehr mit dem Hauptwerk verzahnt, zwischen die Bilder oder gar mitten in zwei von ihnen eingefügt wird und vor allem im zweiten Teil so große Ausmaße annimmt, dass unnötige Längen zum Nachteil der Spannung entstehen. Wäre Sergej Newskis von der Staatsoper Stuttgart in Auftrag gegebene „Secondhand-Zeit“ eine Mussorgskis Tonsprache ähnelnde Komposition, bliebe die Homogenität gewahrt. Aber hier soll bewusst ein Keil in die viele Jahrhunderte zurück liegende Geschichte getrieben werden, eine Beziehung zur jüngeren Geschichte nach der Perestroika wie auch zu unserer Gegenwart aufgebaut werden, mit der Frage, ob denn auch die Zukunft Vergangenes, selbst weit Zurück liegendes, nicht einfach abstreifen kann. Newskis Arbeit ist eine weitgehend atonale Verklanglichung (liegende Streicher, irrlichternde Holzbläser, signalartiges Blech) von Texten aus dem gleichnamigen Buch der Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch. Gemäß dessen Untertitel „Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ kommen hier Einzelpersonen wie die Mutter eines Selbstmörders oder ein jüdischer Partisan mit ihren Schicksalen singend und sprechend zu Wort. So sinnvoll eine deutsche Übersetzung von Ganna-Maria Braungardt zum besseren direkteren Verständnis erscheint, so heterogen stößt sie auf das gewichtige russische Idiom. Zudem können sich die sechs Einzelpersonen, die zur geschichtlichen Zeitstufen-Vernetzung von Personen des Zarendramas übernommen werden und z.T. in der Mittelloge und in den Proszeniumslogen auftreten, nur anfangs klares Gehör verschaffen, ehe sie sich in Duetten bis zum finalen Sextett so quer überlagern, dass nur noch vokales Durcheinander entsteht. Was soll das bitte zum Verständnis beitragen? Da schalten selbst opernerfahrene Hörer ab. Wer auch immer die Idee für dieses zumindest theoretisch in Ansätzen nachvollziehbare Experiment hatte – die in letzter Zeit vor allem in bedeutenden Institutionen (München, Salzburg) seltsame Blüten treibende Mode ausgewachsene Werke durch Zusätze zu ergänzen, sollte schleunigst wieder ein Ende finden. Aber auf toten Schöpfern lässt sich ja leicht herumtrampeln!
Vokal-darstellerischer Glanzpunkt: Adam Palka als Boris. Foto: Matthias Baus
In den Kostümen von Pia Dederichs und Lena Schmid spiegeln sich mehrere Epochen, eine klare Trennung ist gemäß Regie-Intention nicht gewollt. Das Ergebnis sind Gewänder von teils stilistisch wie farblich seltsamer Ausprägung, opulent bei den Bojaren, in einheitlichem Hellbraun mit Schlammspuren das geschundene Volk, das als große Masse seine Stimme erhebt und einen wichtigen Gegenpol zur Position des Zaren einnimmt. Eine Glanzaufgabe für den gerühmten Stuttgarter Staatsopernchor, der in Ergänzung durch Extra- und Kinderchor eine farb- und nuancenreiche Klangfülle in leuchtender Transparenz erzielt, die in den großen Ausbrüchen und Ballungen buchstäblich unter die Haut geht und glauben macht, dass hier nicht nur knapp 100 Menschen, sondern ein riesiges Volk auf der Bühne steht. Ein Sonderlob für die Chorleiter Manuel Pujol und Bernhard Moncado.
Stand in der letzten Inszenierung vor gut 20 Jahren noch Paata Burchuladze als Boris auf dieser Bühne, so hatte er in dem noch recht jungen, aber bereits sehr reif entwickelten Adam Palka einen absolut gleichwertigen, weniger orgelhaften, dafür in puncto Stimmschönheit sogar überlegenen Nachfolger. Wer das Potential des polnischen Basses von seinen bisherigen Partien kennt, hat im Prinzip auch nichts anderes erwartet. Was die Gestaltungen des überaus kultiviert geführten, in allen Lagen ohne Einschränkungen, nach oben besonders fundiert ausgestatteten Basses bei dieser neuen Rolle so besonders faszinierend macht, ist die deklamatorische Prägnanz und Dringlichkeit in Verbindung mit einer tiefen darstellerischen Einsicht in den mehr und mehr von Zweifeln und Alpträumen heimgesuchten Zaren. Aber auch als Partner stellt der Mittdreissiger nie seine Kunst in den Vordergrund.
Feine Charakterstudie: Matthias Klink als Fürst Schuiski mit Adam Palka (Boris) im Hintergrund. Foto: Matthias Baus
Weniger Profil hatte Elmar Gilbertsson trotz fein und klar ansprechendem Tenor als falscher Dimitri (parallel auch jüdischer Partisan). Pawel Konik lässt in seinen beiden Auftritten als Schtschelkalow mit gefestigt ausdrucksvollem Bassbariton aufhorchen. Friedemann Röhlig lädt als Bettler Warlaam die Erzählung aus Kasan mit imponierend gewürzter und profunder Bassfülle auf, Charles Sy bleibt als sein nur Stichworte einflechtender Begleiter Missail unauffällig. Der Gottesnarr (später der Obdachlose) Petr Nekoranec berührt in seiner Hilflosigkeit so besonders, weil er seinem Leid mit Belcanto geschultem Tenor einen gleichzeitig wohltönenden und wehklagenden Ausdruck verleiht.
Bei den Frauen rückt Maria Theres Ullrich am meisten ins Zentrum, weil sie der Amme und von den Figuren der Newski-Vertonung als Mutter des Selbstmörders mit charaktervollem Mezzosopran und sanfter bewegender Sprechstimme am meisten Aufmerksamkeit verschafft.
Stine Marie Fischer fehlt es der Schenkenwirtin und parallel der Frau des Kollaborateurs trotz ansprechend heller Altstimme an Ausdrucks-Prägnanz. Carina Schmieger ist mit recht ergiebigem Sopran eine passend unter dem Verlust ihres Bräutigams leidende Zarentochter Xenia (wie auch Geflüchtete), Alexandra Urquiola in ihrem noch etwas schmal bemessenen Mezzo ein zumindest szenisch agiler und begieriger Zarensohn Fjodor (wie auch eine Aktivistin der „Secondhand-Zeit“). Ein geschlossenes Lob für die kleineren Rollen.
Am Pult des hoch konzentriert wirkenden Staatsorchesters Stuttgart gelingt es Titus Engel vor allem die brüchige Struktur des Werkes, seine offene und in der Zeit voraus weisende Anlage klar zu vermitteln und damit immerhin eine gewisse Annäherung und Verknüpfung an und mit Newskis aktueller Partitur herzustellen, die Übergänge abzuschärfen. Ausdruck geht hier vor rein tonlicher Attraktivität, deren explizite Momente wiederum etwas mehr Aufmerksamkeit verdient hätten.
In einem losgelösten Kontext, für sich stehend, vielleicht als Teil eines Abends mit Kurzopern würde Sergej Newskis Werk mit Sicherheit besser zur Geltung kommen und gewürdigt werden als in diesem Konglomerat, wo es hauptsächlich als Fremdkörper, ja zunehmend als Störfaktor wahr genommen wird. Das musikalische Personal durfte zum Glück davon unbeirrt verdiente Ovationen entgegen nehmen.
Udo Klebes