Premiere: Ein Theaterparcours von Staatsoper Stuttgart, Stuttgarter Ballett und Schauspiel am 4./5. Juni 2020/STUTTGART
WENN SICH DAS INNERE DES THEATERS BEWEGT
Es ist ja nur eine Frage der Zeit, bis das Staatstheater endlich wieder aus seinem erzwungenen Dornröschen-Schlaf erwacht. In der gelungenen Regie von Schauspiel-Chef Burkhard C. Kosminski geht dieser ungewöhnliche Theaterparcours unter die Haut. Oper, Ballett und Schauspiel lassen das Repertoire in origineller Weise Revue passieren. Trommelwirbel, Schlagzeuggeräusche und Xylophon-Passagen beherrschen die Auszüge aus „Impuls“ in der Choreographie von Roman Novitzky. Marc Strobels suggestive Musik zu „Monolith“ gibt den Tänzern im oberen Foyer des Schauspielhauses viel Bewegungsspielraum, der auch durch die schwarzen Kostüme unterstrichen wird. Auf der Unterbühne des Schauspielhauses sind dann Szenen aus Samuel Becketts „Warten auf Godot“ zu sehen: „Man sollte sich entschlossen der Natur zuwenden.“ Sylvana Krappatsch, Andre Jung, Gabriele Hintermaier und Felix Strobel lassen diese an Franz Kafka gemahnende Parabel abwechselnd ohne jede Handlung und Entwicklung in hintersinniger Weise aufleben.
Hedwig Gruber (Viola). Copyright: Bernhard Weis
Im Schauspielhaus beginnt anschließend auch eine betörend-magische Bühnenfahrt mit György Ligetis „Atmospheres“ für Orchester, wobei sich das Rondell in unheimlicher Weise bewegt. Plötzlich erwacht das Innere des Theaters zum Leben, offenbart ungeheure Betonklötze und facettenreiche Leuchtstäbe. Im Magazin des Schauspielhauses begrüßt der Schauspieler Elmar Roloff das Publikum in einer raffinierten Sound- und Lichtinstallation mit Shakespeares Sonett 18 in der Übersetzung von Stefan George. Die Szene wird in einem überdimensionalen Video an die riesige Wand projiziert. Alles wirkt monumental, geradezu übernatürlich. Im Aufzug des Schauspielhauses begegnet den Zuschauern und Zuhörern das Solo-Repertoire des frühen 20. Jahrhunderts mit Stücken von George Enescu, Paul Hindemith oder Bela Bartok. Die Musiker Andrea Berger, Frederike Wagner (Harfe), Sabina Bunea, Alexander Jussow (Violine) sowie Hedwig Gruber, Jan Melichar, Madeleine Przbyl (Viola) betonen die harmonischen Raffinessen dieser Werke eindringlich. Auszüge aus Sergej Prokofjews Ballett „Romeo und Julia“ werden in der Choreographie von John Cranko (adaptiert von Tamas Detrich) in der Stallgasse im Opernhaus gezeigt. Die golden glitzernden Kostüme von Jürgen Rose lassen längst versunkene mittelalterliche Zeiten wieder lebendig werden. Thematische Verwandtschaften werden hier von den Tänzern nuancenreich umgesetzt, angesichts der kühnen Rhythmen spürt man ebenso die russische Melismatik. Das Staatsorchester Stuttgart musiziert abwechselnd unter der Leitung von Cornelius Meister und Wolfgang Heinz wie aus einem Guss.
Die Schauspielkunst hält dann wieder Einzug ins Opernhaus, wo auf der Seitenbühne Ausschnitte aus Thomas Bernhards „Der Schein trügt“ zu sehen sind: „Zum Juristen bestimmt, zum Schauspieler geboren“. In den Kostümen von Ute Lindenberg werden die Schauspieler Matthias Leja, Sven Prietz, Christiane Roßbach und Reinhard Mahlberg abwechselnd lebendig.
„Metrof“. Friedemann Vogel. Copyright: Bernhard Weis
Auf der Hinterbühne des Opernhauses ist dann der berühmte „Liebestod“ aus Richard Wagners „Tristan und Isolde“ auf einem schneebedeckten Untergrund zu hören (die Pianisten sind hier abwechselnd Rita Kaufmann, Cornelius Meister und Stefan Schreiber). Und im Zuschauerraum des Opernhauses darf sich das Publikum mit dem Staatsopernchor Stuttgart unter der Leitung von Manuel Pujol (Klavier: Bernhard Moncado, Alan Hamilton) bei dem Quartett op. 64 Nr. 2 „Der Abend“ und dem Quartett op. 92 Nr. 1 „O schöne Nacht“ von Johannes Brahms aufgrund schlichter, aber leidenschaftlicher Intensität ganz zu Hause fühlen. Der „Lila Salon“ des wie ein Zauberschloss umgewandelten Opernhauses zeigt wiederum eine Schauspielszene aus Max Frischs „Mein Name sei Gantenbein“ mit den Schauspielerinnen Therese Dörr und Katharina Hauter (Kostüme: Ute Lindenberg). Verhangene Lyrik und fernträumende Erinnerungen sind selbst hier spürbar. Im Foyer des Opernhauses im dritten Rang zeigen die Schauspieler Anne-Marie Lux, Paula Skorupa, Marco Massafra und Valentin Richter (Kostüme: Ute Lindenberg) einige Facetten der feinen Ironie aus Georg Büchners „Leonce und Lena“, während im Opernhaus im Foyer des ersten Ranges „Der sterbende Schwan“ von Camille Saint-Saens in der differenzierten Choreographie nach Michel Fokine zu sehen ist (Klavier: Valery Laenko; Cello: Guillaume Artus/Jan Pas). Als beeindruckende Uraufführung ist hier außerdem „Metrof“ in der weiträumigen Choreographie von Shaked Heller mit der Musik von Frederic Chopin und den Tänzern Miriam Kacerova und Friedemann Vogel zu erleben (Klavier: Paul Lewis). Auch „Solo aus Ssss…“ in der Choreographie von Edward Clug und der Musik von Frederic Chopin (Klavier: Alastair Bannermann, Catelijne Smit) beweist einmal mehr die besondere Klasse des Stuttgarter Balletts, denn den Tänzern gelingt es in brillanter Weise, die Räumlichkeiten mit ihrer körperlichen Präsenz auszufüllen.
„Der sterbende Schwan“ in der Choreographie von Michael Fokine. Anna Osadcenko. Copyright: Bernhard Weis
In der Kassenhalle des Opernhauses begegnet man dann einem Kartenverkäufer, der zwischen rosenbekränzten, umgestürzten Stühlen zahllose Billetts abreisst. Musiker lassen bekannte Motive der Opern- und Konzertliteratur mit Englischhorn, Fagott, Horn, Klarinette, Posaune, Saxophon, Trompete und Tuba fast melancholisch erklingen. Dieser Abend hat gerade wegen der bedrängenden Bilder etwas Unheimliches, nie Erlebtes.
Auch im Hof III des Opernhauses trotzt Diana Haller der Corona-Hysterie bei Musik aus der Zeit der Anfänge der Oper mit Madrigalen von Claudio Monteverdi und Arien von Henry Purcell, die die atemberaubende Chromatik ebenso beschwören wie die leidenschaftliche Emphase (begleitet wird sie wiederum abwechselnd von den Gesangskollegen Stine Marie Fischer, Moritz Kallenberg, Kai Kluge, Pawel Konik, Mingjie Lei, Catriona Smith, Christopher Sokolowski, Charles Sy und Maria Theresa Ullrich; Cembalo: Vlad Iftinca, Alan Hamilton).
So endet diese aufregende Theaterreise, die im Foyer des Schauspielhauses inklusive Führung begonnen hat. Not macht erfinderisch – die schwierigen Zeiten fordern neue, revolutionäre Theaterformen geradezu heraus. Ein Mosaik, das sich ins Gedächtnis einbrennt.
Alexander Walther