Staatsoper Stuttgart
„AUFSTIEG UND FALL DER STADT MAHAGONNY“ 11.5.2024 (Premiere) – mit Utopie der Auslöschung und Epilog der Hoffnung
Kai Kluge, Ida Ränzlöv. Foto: Martin Sigmund
Die junge Regisseurin Ulrike Schwab und ihr Team Pia Dederichs und Lena Schmid (Bühne) sowie Rebecca Dornhege Reyes (Kostüme) sind bei ihrer Einstudierung des von Kurt Weill und Bertolt Brecht zunächst als Songspiel konzipierten Stückes in große Fußstapfen getreten, denn sowohl Günther Rennerts Inszenierung in den späten 60er Jahren mit Anja Silja und Martha Mödl in den tragenden Frauenpartien als auch Ruth Berghaus Regiearbeit in den frühen 90er Jahren mit Dagmar Peckova und Reinhild Runkel haben markante Spuren hinterlassen. Das in seinem Aufbau Züge einer Grande Opéra tragende Werk bietet vielerlei Perspektiven und Interpretationsansätze. Schwab und Co. ging es als wesentliches Element um die Einbeziehung des Publikums als Teil der fiktiven Stadt Mahagonny.
Waren es zur Entstehungszeit der 1920er Jahre Themen wie starke Gegensätze zwischen arm und reich, das Aufkommen des Nationalsozialismus und mediale Beschleunigung, so sind es heute ca. 100 Jahre später wiederum andere Probleme wie inflationäre Auswüchse, Klimawandel und überzogene Kultur-Diskurse, die das Stück neu beleuchten.
Brechts mit dem Bürgerlichen brechende Literatur und Weills damals sehr avantgardistische Tonsprache erweisen sich auch jetzt als kaum weniger aktuell und stellen selbst an die heutzutage technisch besser gerüsteten Künstler noch immense Herausforderungen.
Der eingangs erwähnte Regieansatz ist durch die Erweiterung der Bühne über den abgedeckten Orchestergraben hinweg, die zusätzliche Bespielung der beiden Proszeniumslogen sowie einen mittig bis in die 10. Reihe führenden schmalen Steg konkretisiert, auf dem sich einzelne Sänger immer wieder hautnah erleben lassen, so man einen adäquaten Sitzplatz hat. Für den zurück gesetzten dritten Rang dürfte das allerdings enorme Sichteinschränkung bedeuten, die wohl auch durch die jeweils seitlich oben neben dem Bühnenportal geworfene Video-Projektionen nur marginal behoben werden. Eine werkstatteigene Nachzeichnung von Michelangelos „Jüngstem Gericht“ bedeckt den kompletten Bühnenboden und die Wand hinter dem terrassenartig ansteigenden Podium für das Orchester, das für Auftritte von der Mitte auch in zwei Teile auseinander bewegt werden kann. Die Figuren in Michelangelos damals mit Nacktdarstellungen Tabus brechendes kolossales Gemälde sind in die teils abenteuerlichen, teils panzerartig erweiterten, stilistisch vielseitigen bunten Kostüme eingeflossen, wodurch der Eindruck entsteht, dass die Mitwirkenden das Kunstwerk lebendig werden lassen.
Die vier Holzfäller aus Alaska kommen in einem Boot daher gefahren. Bockleitern dienen als Positionstürme, und als Bezug zu Stuttgart schwebt das knäuelartige Überbleibsel des 2021 vom Sturm beschädigten und auf den Vorplatz gestürzten Kupfer-Daches des Opernhauses über der Bühne, ehe es auf diese geschoben als Hinrichtungsstätte dient. Die laut Textbuch als Vorhang zwischen den einzelnen Szenen dienenden Gardinen verdecken hier zunächst das Orchester ehe sie im Zuge des auf Mahagonny zurasenden Hurrikan durch Windmaschinen angetrieben wehend zusammenfallen.
In einem Punkt überschritt die Einbindung des Publikums allerdings auch eine Tabu-Grenze: die Festmachung eines spontan ausgewählten Zuschauers an ein Kreuz, der sich sichtlich unwohl und peinlich berührt fühlte, als er im Zuge der drastisch ausgespielten Exzesse („Du darfst“) von Begbick und Jenny empfindlich verführt wurde. Das dürfte wohl auch die Ursache einiger hartnäckiger Buhrufe für das ansonsten viel Begeisterung einsteckende Regieteam gewesen sein.
Erzählt werden die Vorgänge aus der Sicht der beiden Frauen Witwe Begbick und Jenny, die sich wie Freundinnen für die Enttäuschungen ihrer immer wieder neu begrabenen Hoffnungen an der Menschheit rächen. Sie nehmen die Sache selber in die Hand und rechnen radikal ab, in dem sie z.B. die eigentlich an Fresssucht und in einem Boxkampf sterbenden Holzfäller genauso abknallen wie am trostlosen Ende alle Anwesenden. Eine Utopie des Vergessens aller Wünsche, einer Vernichtung des Menschen zugunsten einer Wiedererstarkung der Natur. Doch mit diesem Eindruck sollte der Zuschauer dann doch nicht entlassen werden, und so wurde noch eine Szene als Zeichen der Hoffnung vor dem herunter gelassenen Eisernen Vorhang angehängt, wenn beide Frauen nebst Bedienung eines Schlagzeugs und einer E-Gitarre „When the saints go marching in“ anstimmen.
Elmar Gilbertsson, Alisa Kolosova., Johua. Foto: Martin Sigmund
Die Sänger sind dazu angehalten, ihre Rollen herzhaft und auch mit mehr Gefühl auszuspielen als es die Autoren wohl vorgesehen hatten und ernteten sicher auch deshalb Jubelstürme, wie sie sonst meist nur bei herkömmlicherer Opern-Kost entfacht werden.
Alisa Kolosova ist eine entgegen der Tradition noch knackig frische Witwe Begbick mit einem dunkel legierten Mezzosopran, der sich vollmundig in allen Lagen entfaltet und hinsichtlich Auskostung des Textes das verkörpert, was „mit Haaren auf den Zähnen“ bezeichnet wird. Für die junge aus dem Opernstudio heraus gewachsene Dänin Ida Ränzlöv ist die Jenny eine ideale Partie ihre ganze vokale und szenische Verführbarkeit zu verströmen, wobei ihr heller Mezzosopran neben einer gleichmäßig ausgebildeten Mittellage und Tiefe in kraftvollen Spitzentönen bereits eine leicht metallische Strenge annimmt. Vielleicht dient das hier aber auch nur als Stilmittel.
An der Spitze der Männer steht rollengemäß Kai Kluge als Jim Mahoney. In dieser nicht zu unterschätzende Anforderungen stellenden Partie offenbarte sich die mittlerweile üppig gewachsene Potenz des Tenors, mit dem der kleine, etwas knuffige und äußerst bewegungsfreudige Sänger die Breite seiner Möglichkeiten zwischen fast heldisch überschwänglichem Ton und fein intonierten Lyrismen wie im kurzen Duett mit Jenny oder bei seinem Monolog vor der Hinrichtung ausspielen kann. Da stellt sich gedanklich schon die Vorfreude auf wichtige zentrale Rollen des Repertoires ein.
Seine Kumpane aus Alaska sind mit Björn Bürger als prall ausgestaltendem und mit raumgreifendem Bariton für sich einnehmender Bill, Jasper Leever als köstlich gemütlichem Joe mit ordentlichem Bass und dem noch ganz jungen Joseph Tancredi aus dem Opernstudio mit fein expressivem Tenor als Jack sowie später noch als freigesprochener Mörder Tobby Higgins ohne Schwachstellen besetzt.
Zum Stadtgründungs-Trio um Witwe Begbick gehören noch Joshua Bloom als Dreieinigkeitsmoses in Sonnenbrille und mit großer Geste sowie schön erdig klingendem Bass und Elmar Gilbertsson als schauspielerisch gewandter und tenoral markant charaktervoller Fatty.
Der Staatsopernchor Stuttgart (Einstudierung: Manuel Pujol) gab dem Volk von Mahagonny mit der gewohnten Sanges- und Spiellust klangvolle und sichere Statur.
Dass GMD Cornelius Meister seinem Namen nicht nur im Groß-Symphonischen oder als Liedbegleiter alle Ehre macht, beweist er mit diesem viele Partikel aus E- und U-Musik, aus Tradition und Innovation satirisch, ironisch, aber manchmal auch gefühlsbetont zusammenführenden Werk. Wie er mit dem hellwach agierenden Staatsorchester Stuttgart all das genau unter eine Kappe brachte, und zuerst in Hosenträgern, später in hellblauer Hose und Weste mit weißen Stiefeletten seine Offenheit als Teil von Mahagonny auch mal mit lockerer Hand spürbar werden ließ, zeigte eine neue Seite des immer wieder auf andere Weise bewunderten Vollblut-Künstlers. Und so steigerte sich auch für ihn und die Musiker der Applaus zu stürmischer Form. Kein Hurrikan, aber ein Orkan!
Udo Klebes