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STUTTGART/ Staatsoper: ALCINA von G.F.Händel als Wiederaufnahme

06.10.2016 | Allgemein, Oper

Georg Friedrich Händels „Alcina“ als Wiederaufnahme in der Staatsoper Stuttgart

EIN FILIGRANER ZAUBER

Hndels Oper „Alcina“ als Wiederaufnahme am 5. Oktober 2016 in der Staatsoper/STUTTGART

Alcina_2012-13_(c)_A.T Schaefer
Agneta Eichenholz, Diana Haller. Foto: A.T.Schäfer

Die hervorragende dramatische und musikalische Qualität von Georg Friedrich Händels „Alcina“ kommt in der Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito sehr überzeugend zum Vorschein. Man ist überrascht, wie viel zwischen den einzelnen Personen passiert und welche elektrisierenden Spannungsmomente hier immer wieder neu erobert werden. Ruggiero, der der Zauberin Alcina in leidenschaftlicher Liebe verfallen ist, hat seine militärische Laufbahn abgebrochen und seine Verlobte Bradamante verlassen. Nur Alcinas Insel ist der Zufluchtsort für diese eigentlich unmögliche Liebe. In Gestalt von Bradamante, die ihn liebt und sich in Männerkleidung für ihren Zwillingsbruder Ricciardo ausgibt, holt die Vergangenheit Ruggiero wieder ein. Melisso braucht ihn ebenfalls, um den bevorstehenden Krieg gewinnen zu können. Die Irrungen und Wirrungen in Alcinas Liebeslabyrinth werden bei dieser Inszenierung immer heftiger.

Das Bühnenbild von Anna Viebrock zeigt einen großen Bilderrahmen, der als Spiegel die gesamte Szene vollkommen beherrscht. In diesem Spiegel werden die Protagonisten von der raffinierten Zauberin Alcina verwirrt. Ein letztes Mal treffen Bradamante und Ruggiero auf Alcina, deren Zauberkräfte allmählich verlöschen, was die Aufführung sehr plastisch und realistisch schildert, auch wenn die metaphysische und geheimnisvolle Aura fehlt. Alcina wird von den einzelnen Personen immer wieder mit einer Pistole bedroht und letztendlich niedergeschossen. Damit ist der Zauberbann endgültig gebrochen. Ruggiero geht plötzlich auf die unheimliche Urne zu, um sie mit seinem Zauberring zu zerstören. Er zerbricht die Urne – und die ganze Szene bricht zusammen. Dieser Moment gelingt dem versierten Regieduo Wieler/Morabito am besten, denn die verzauberten Menschen verwandeln sich nun zurück und versammeln sich zum Chor. Selbst das schlichte Bühnenbild mit den abgerissenen Tapeten scheint sich zu verändern. Die Elemente der Zauberoper werden bei dieser geglückten Inszenierung nie verleugnet. Magie lässt sich auf dem Theater so sehr wohl glaubwürdig darstellen, auch wenn man sich manches Detail noch fantastischer gewünscht hätte. Der Zauber der Persönlichkeit, Erotik und Liebe setzt sich allerdings durch. So wird die Befangenheit in einem endlosen Labyrinth von Gefühlen herausgestellt. Auch die sprunghafte Psychologie des Stückes kommt nicht zu kurz. Zudem ist bei dieser Inszenierung eine gewisse Nähe zum surrealistischen Film auszumachen, etwa denn, wenn sich die Wand im Hintergrund auf einmal bewegt. Alcinas Liebesinsel taucht wie aus dem Nichts auf, auch wenn man auf der Bühne nicht viel davon bemerkt. Bei Jossi Wieler und Sergio Morabito fängt das Stück da an, wo es Alcina eigentlich gar nicht mehr nötig hat zu zaubern. Das spürt man sehr deutlich. Das Gerümpel auf der Bühne entlarvt die letzten Reste einer Welt, die längst vergangen ist. Die Menschwerdung Alcinas steht hier jedoch absolut im Mittelpunkt. Wichtig ist dem Regieduo in jedem Fall, dass Alcina in dem Stück eine unglaubliche Verwandlung durchmacht. Sie droht daran zu zerbrechen, als sie von einem Mann verlassen wird. Auf der anderen Seite weiß sie, dass sie deswegen nur noch einen Mann lieben kann. Erst im dritten Akt gelingt es Alcina, sich von dieser Liebe zu lösen und mit der bitteren Erfahrung des Schmerzes umzugehen. Das kommt bei der Aufführung sehr gut zum Vorschein. Das Vexier-Spiel mit der Wahrnehmung des Zuschauers nimmt so konsequent seinen Lauf. Und die magische Dimension korrespondiert mit dem Rhythmus der Musik. In dieser Inszenierung findet also keine Psychologisierung statt, sondern die Figuren agieren hier mit ichfremden Elementen, die negierte Persönlichkeitsanteile zulassen. Psychologisch gesehen ist das durchaus ein interessantes Katz- und Maus-Spiel, das sich im Laufe des Abends immer weiter zuspitzt und verfeinert. Dies gilt vor allem für das Problem Ruggieros, der zwischen beiden Frauen steht. Alles geht heftig und unvermittelt vor sich – das ist ein wichtiger Aspekt dieser interessanten Aufführung, die nicht ohne szenische Brüche auskommt. Dabei passiert an einem Abend, was sonst in mehreren Menschenleben geschieht.

Das Ensemble bringt diese Situation gekonnt auf den Punkt. Das barocke Verhältnis von Orchester und Bühne wird beim Bühnenentwurf und den Kostümen von Anna Viebrock unterstrichen. Intimität tritt so in den Vordergrund. Die Bühne will hier also von den Darstellern erobert werden. Das zeigt sich auch eindringlich, wenn Bradamante langsam verblutet. Es soll kein barockes Maschinentheater entstehen. Es gibt zwischen den einzelnen Akten keine Zwischenvorhänge. Was man bei der packenden Inszenierung allerdings begreift ist, dass Krieg herrscht. Die wunderbare Liebesbeziehung zwischen Alcina und Ruggiero ist plötzlich zerstört, ihre Schönheit ist dahin. Aber die Geschichte wird hier auch nicht nur aus der Perspektive Alcinas und Ruggieros erzählt. Rein musikalisch ist diese Wiederaufnahme ein besonderes Fest. Der britische Barock-Spezialist Christian Curnyn macht das kontrapunktische Gewebe von Händels durchaus explosiver Musik in eleganter Weise deutlich. So können sich Charaktere und Persönlichkeiten auf der Bühne auch akustisch prächtig entwickeln. Yuko Kakuta kann den flatterhaften Charakter der Morgana in ihrer Eröffnungsarie „O s’apre al riso“ glänzend verdeutlichen, wobei sich die gesangliche Intensität bei der Arie „Tornami a vagheggiar“ am Ende des ersten Aktes noch steigert. Die Ritornelle im Orchester spielen bei dieser Interpretation virtuos mit dem reizvollen thematischen Material, was den Sängerinnen und Sängern ausgezeichnet zugute kommt. Man begreift vor allem, dass Georg Friedrich Händel die gesamte Arie aus der Hauptmelodie „O come chiare e belle“ entwickelt. Der Cantus-firmus-Charakter der Komposition tritt so offen zutage. Obwohl die Rolle des Oronte in der Ausdruckspalette eher begrenzt ist, kann sich der begabte Tenor Sebastian Kohlhepp mit strahlkräftigen Kantilenen voll behaupten. Mit flexibler und wandlungsfähiger Altstimme agiert ferner Stine Marie Fischer in der Rolle der Bradamante, was sich insbesondere bei der Arie „All’alma fedel“ offenbart. Diana Haller als Ruggiero und vor allem die hervorragende schwedische Sopranistin Agneta Eichenholz als Alcina lassen die Entwicklung der Charaktere noch besser deutlich werden. Die stimmliche Virtuosität hat in diesem Fall ganz deutlich eine dramatische Funktion. In der Arie „La bocca vaga“ zeigt Diana Haller als Ruggiero mit facettenreichen Intervallen eine gewisse Nervosität, die mit den staccatohaften Streicherfiguren korrespondiert. Und in der letzten Arie kommt die Tigerin grell zum Vorschein, die hin- und hergerissen ist zwischen dem Angriff auf den Jäger und ihren Beschützerinstinkten für ihre Jungen.

Der neapolitanische Stil Händels wird vom Dirigenten Christian Curnyn und dem filigran musizierenden Staatsorchester Stuttgart sehr schön betont. Agneta Eichenholz kann dabei die emotionale Tiefe und den harmonischen Ideenreichtum bei der Rolle der Alcina exzellent herausarbeiten. Dass ihre Liebe zu Ruggiero als positive Kraft im Widerspruch zu ihrer dunklen Natur steht, bringt die Sängerin an diesem Abend in denkwürdiger Weise zu Gehör. Nach den Arien der Verführungskunst gipfeln die harmonischen Stürme in Rache-Drohungen und Staccato-Akkorden der Streicherbegleitung. Alcinas große Verzweiflung beim Accompagnato-Rezitativ „Ah! Ruggiero crudel“ bricht glaubwürdig und sehr heftig in die Szene herein, wobei die gewundenen Linien fließender Sechzehntelbegleitung in den Streichern eine ungewöhnliche gesangliche Entsprechung finden. Das Staatsorchester Stuttgart brilliert nochmals am Ende des zweiten Aktes mit einem zarten E-Dur-Ballett, das die zunehmende Kälte auf der Bühne trügerisch überdeckt. Das sind Momente, die bei dieser Inszenierung fast schon unheimlich wirken. In weiteren Rollen überzeugen der fulminante Arnaud Richard als Bradamantes energischer Erzieher Melisso, Josy Santos als Oberto und Yehonatan Haimovich als Astolfo. Die Continuo-Gruppe mit Alan Hamilton (Cembalo), Josep M. Marti Duran (Laute) und Jan Pas (Violoncello) lässt die graziösen Kaskaden und Arabesken von Händels Musik kühn aufblitzen. Das Steigen und Fallen der Töne gelingt den Sängerinnen und Sängern bei dieser gelungenen Wiederaufnahme glänzend. Die Unwetter seelischer Regungen zeigen sich aufregend in wankenden Bewegungen und rasenden Läufen. Gefühle erscheinen in einem raffinierten synkopierten Muster. Der hartnäckige kurz-lang-Rhythmus verdeckt die Magie der da capo-Arien keineswegs. Crescendo und decrescendo auf einer einzigen Tönhöhe gelingen insbesondere Agneta Eichenholz glaubwürdig, die für die erkrankte Ana Durlovski eingesprungen ist. Yuko Kakuta singt hier ihre erste Morgana, Sebastian Kohlhepp debütiert als Oronte und Stine Marie Fischer gibt ihr Debüt als Bradamante. Für das gesamte Team gab es zuletzt begeisterten Schlussapplaus (szenische Einstudierung: Mira Ebert).

Alexander Walther      

 

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