STUTTGART/Schauspielhaus: PEER GYNT von Henrik Ibsen: PEERS REISE INS NICHTS. Premiere am 20.6.2015
Edgar Selge. Copyright: Conny Mirbach
„Peer Gynt“ von Henrik Ibsen ist eigentlich nicht für die Bühne geschrieben. Der Autor verfasste den sperrigen Text als „ein dramatisches Gedicht“, mit dem auch der Komponist Edvard Grieg seine Probleme hatte. Der durchaus einfallsreiche Regisseur Christopher Rüping vermag bei seiner mit einem schlichten Bühnenbild (Jonathan Mertz) aufwartenden Inszenierung neben anderen volkstümlichen Weisen die Musik der „Peer Gynt“-Suite von Edvard Grieg geschickt in das szenische Geschehen einzubinden. So kommt es zu einem beeindruckenden sprachlich-musikalischen Fluss, den der umsichtige Chorleiter Wilhelm Bäuml mit dem fulminanten Herrenchor eindringlich bewältigt. Da gelingen großartige Szenen mit den ausgezeichneten Schauspielern Julischka Eichel, Caroline Junghanns, Svenja Liesau, Birgit Unterweger, Edgar Selge (als emotionaler Peer Gynt) und Nathalie Thiede als berührende Solvejg. Der Träumer und Fantast Peer Gynt wird immer wieder Opfer heftiger Wutausbrüche, doch er kann den geisterhaften Trollgestalten und Elfen nicht entfliehen. Im Lichtkegel geht seine intensive Begegnung mit der Jugendliebe Solvejg wirklich zu Herzen und wirkt nicht aufgesetzt. Die Lebensgier der Jugend und die verzweifelte Suche nach dem eigenen Ich taucht Christopher Rüping in grelle Bilder. So öffnet sich die riesige schwarze Bühne wie ein verzehrender Schlund immer weiter nach hinten. Einige Utensilien wie die Stehlampe, Holzkisten und viele Putzeimer fallen dabei besonders auf. Natürlich hätte man sich ein märchenhafteres, mystischeres Ambiente für dieses Stück gewünscht. Doch trotz dieses Handicaps gelingen Rüping viele bewegende Bilder, zumal das Publikum stark in die Handlung mit eingebunden wird. Der Besuch der Küsten und Wüsten dieser Welt gerät zu einer atemberaubenden Irrfahrt, bei der sich der Protagonist unter anderem als „Hitler und Stauffenberg“ zugleich bezeichnet. Humor und Ironie werden auf die Spitze getrieben, als er sich 24 Frauen aus dem Publikum heraussucht und diese mit hinter die Bühne nimmt. Alle werden bald auf einer riesigen Videoprojektion im Bühnenhintergrund sichtbar. Peer Gynt gerät schließlich immer mehr in die gnadenlosen Fänge der Tollhäusler und lässt sich in ägyptischen Irrenhäusern zum Kaiser der Narren krönen. Die Herren des Chors erscheinen plötzlich mit Brautschleiern und führen ihre „Bräute“ allesamt zum Altar. Das sind höchst ungewöhnliche und originelle Einfälle, die die zuweilen etwas schwerfälligen szenischen Momente auflockern. Den Weg zu sich selbst kann Peer Gynt nicht finden: „Peer Gynt ist alt geworden.“ Seine Reise währt ein halbes Leben lang und endet nach einem Schiffbruch auf hoher See dort, wo sie begonnen hat. Er befindet sich schließlich vor dem Haus seiner Jugendliebe Solvejg: „Hin und zurück, ’s ist der gleiche Weg, hinaus und hinein, ’s ist der gleiche Steg.“ Doch das Publikum entscheidet letztendlich, dass Peer Gynt nicht zu Solvejg zurückkehren darf. Er soll im Nichts verschwinden. Edgar Selge mimt diese Fassungslosigkeit des Tielhelden hervorragend: „Hinauf will ich, hoch, wo die Gipfel blauen…“ Er ist gescheitert im so fernen, romantischen Märchenland zweckfreier Liebe. Das Publikum hat schon vorher mitbestimmt, wohin Peers Reise geht. Diese Reise im vierten Akt ist dann reich an zeitpolitischen Anspielungen, die immer kuriosere und absurdere Formen annehmen. Der Lügner, Betrüger, Geschichtenerfinder, Sinnsucher, Brauträuber, Frauenaufreißer und -wegschmeißer sowie Sklaven- und Waffenhändler ist den Launen der Zuschauer hilflos ausgeliefert. Das macht aber auch den besonderen Reiz dieser insgesamt sehenswerten Produktion aus. Als großes philosophisches Gedicht des Abendlandes erreicht das Stück bei dieser Interpretation nicht immer die gleiche überragende Größe. Doch die Parallelen des norwegischen Feuerkopfs Ibsen zu Goethe bleiben ständig spürbar. Das ist auch dem fulminanten Herrenchor zu verdanken. Da werden Assoziationen zur griechischen Tragödie wach. Das lässt niemanden kalt. Das Spiel mit der Lüge und der Wirklichkeit sticht flammenartig heraus, flackerndes Licht (Sebastian Isbert) unterstreicht diese Ambition des Regisseurs. Und auch die Musik von Christoph Hart passt sich der Atmosphäre glänzend an. Das gleiche gilt für die Kostüme von Anna Maria Schories. Peer Gynts „Kaisertum“ sucht dieser in der reinen Liebe zu Solvejg – es erfährt bei der Inszenierung viele Varianten.
Copyright: Conny Mirbach
Als „halber Sünder“, der keine Erlösung finden kann, erscheint er in Christopher Rüpings Version ebenfalls. Auch die Mutter Aase ist hier eine ergreifende Frauengestalt, was insbesondere beim Geschehen um ihren Tod mit dem großen Bühnenumbau deutlich wird. Der Rahmen des Naturalistischen wird bei dieser Inszenierung aber leider nicht gesprengt, die märchenhaften Elemente treten eher in den Hintergrund. Die symbolischen Figuren, wie der Große Krumme, der fremde Passagier, der Knopfgießer oder der Magere kommen dabei eindeutig zu kurz. Ebenso bleibt die Entwicklung Peer Gynts vom Jüngling zum Greis eher verschwommen. Das ist schade. Als typischer Vertreter norwegischer Willensschwäche kann Edgar Selge das Publikum dennoch überzeugen. Er flieht in eine seltsame Traumwelt, um auf seine Weise die Realität zu bewältigen. Den Übergang einer bäuerlichen Gesellschaft zur Industriegesellschaft hat Chrisopher Rüping als Regisseur eher im Auge. Die psychischen Auswirkungen, die aus dieser schwierigen Situation resultieren, schildert er beklemmend und drastisch zugleich. Nach dem Tod des Vater wächst Peer in Mutterfixierung heran, was seine Beziehungen zu Frauen schwierig werden lässt. Die Fantasie wird hier tatsächlich zu seinem zweiten Ich, das ihm zuletzt aber keinen Ausweg mehr lässt. „Und dann, Peer? Und dann?“ lautet die letzte drängende Frage, bevor das Licht ausgeht. Er will sich nicht binden. Peer Gynt ist älter, aber nicht reifer geworden. Auch diesen Aspekt zeigt Christopher Rüping glaubwürdig. Alle Rollen, die er spielt, machen deutlich, dass er nicht in der Lage ist, sein eigenes Ich zu finden. Selbst als er sich von den weiblichen Reizen der Beduinentochter Anitra betören lässt, besteht sein Leben aus einer leeren Hülle ohne Kern.
Henrik Ibsen hielt sein Werk übrigens für Poesie, obwohl ihm ein dänischer Kritiker diesen Wert absprach. Etwas mehr von dieser Poesie würde der Inszenierung nicht schaden. Trotzdem gab es begeisterten Schlussapplaus für die Schauspielerinnen und Schauspieler, aber nur vereinzelte Buhrufe.
Alexander Walther