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STUTTGART/ Schauspielhaus: KEIN EISBERG IN SICHT. Ein Foto-Hör-Spiel-Film von Nick Hartnagel und Studierenden, inspiriert nach Hans Magnus Enzensberger

01.05.2021 | Allgemein, Theater

STUTTGART/ Schauspielhaus: „Kein Eisberg in Sicht“ mit dem Schauspiel Stuttgart

Unsterblicher Mythos

„Kein Eisberg in Sicht“ mit dem Schauspiel Stuttgart – Premiere als Stream am 1. Mai 2021/STUTTGART

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Jakob Spiegler. Foto: Nick Hartnagel

In der Inszenierung von Nick Hartnagel (Kostüme: Tine Becker, Musik und Ton: Lukas Lonski) wird der Untergang der Titanic vor über 100 Jahren noch einmal lebendig. Doch heute ist dieses Geschehen nicht mehr das, was es einmal war. In einer Zeit der weltweiten Pandemie, drohender Wirtschaftskrisen und des Klimawandels ist dieses Thema wieder höchst aktuell. In „Kein Eisberg in Sicht“ befassen sich Schauspielstudenten des aktuellen dritten Jahrgangs der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart mit dieser ungewöhnlichen Situation. Der halbstündige Kurzfilm schildert durchaus packend den Moment des Untergehens und der Tragik von Sekunden. Was bleibt, ist die große Sehnsucht nach Berührung, Gemeinschaft und Lebendigkeit.

Inspiriert von Hans Magnus Enzensbergers Stück werden die Darsteller Wiktor Grduszak, Cora Kneisz, Natalja Maas, Jonas Matthes, Liliana Merker, Felicien Moisset und Jakob Spiegler mit der harten Realität konfrontiert, die dieses tragische Geschehen mit sich bringt. Denn Stuttgart wird hier zu einem sinkenden Schiff. Die Passagiere der Titanic werden plötzlich zu Geistern der Vergangenheit. Der Matrose, der den Eisberg zuerst entdeckte oder die junge Frau, die schon mehrere Schiffbrüche überlebt hat – sie alle formieren sich zu einer imaginären Band, die den Wellen bis zum Ende trotzt. Dabei ergeben sich Parallelen zur augenblicklichen persönlichen Situation der Studierenden. Das spürt man. In einer intensiven Ensemblearbeit über Zoom wurde ein interessantes Format entwickelt, das hygienekonform umzusetzen war. Das Hybridformat zwischen Fotografie, Hörspiel und Film weckt gleichsam neue Lebensgeister. Die Gedankenspiele gipfeln in dem diffusen Satz: „Ich amüsiere mich mit dem Untergang der Titanic“. Da heißt es: „Wir sitzen alle in einem Boot – wer arm ist, geht schneller unter.“ Dann sieht man den Kapitän der „Titanic“: „Ich bin ganz unten“. Man sucht die Fische und erkundet minuziös die Schwierigkeiten, die sich durch den Untergang des Schiffes ergaben. „Ich komme oben an und schnappe nach Luft“, sagt einer der Protagonisten weiter. Plötzlich erkennt man banale Orte rund um Stuttgart. Die Rede ist von einer Lady, die mit ihrem Boyfriend in die USA abgezischt ist. Man hört von Fieber, Infektionen, die Leute fangen an zu schreien. Rund um die Stadt ist plötzlich das Meer. Eine unheimliche Situation. Ein großer, stiller Friedhof. „Wir sind unsinkbar!“ lautet die Hoffnung. „Das Leben ist hart, nicht wahr?“

Es brauche einen ganzen Mann, um in dieser Hölle zu arbeiten. Der Mensch scheint zum Teil der Maschinen zu werden. Die Arbeiter schimpfen über „reiche Kerle“an diesem denkwürdigen 14. April 1912, wo 1514 der 2200 Passagiere umkamen. Leiden ist unappetitlich. Dann schwenkt die Kamera hinüber zum Türkischen Bad. „Eisberg voraus!“ lautet es plötzlich. Jetzt erfährt man, dass das Schiff vor fünf Minuten untergegangen ist. Frauen und Kinder zuerst. Aus. Abgeschlossen ist das Leben. Ein Mann sein. Anständig gewesen. „Und was hab‘ ich dann von meinem Leben gehabt?“ Einen Krieg hätte der Mann gerne mitgemacht, der hier spricht. „Ich sehe nichts, keine Straße, kein Haus…“ Dann plötzlich Stille. Wo sind die Passagiere? „Sprechen Sie etwas Fröhliches, damit es keine Panik gibt. Dann geht die Welt nicht unter“, sagt ein anderer. Alte Lieder erklingen: „Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern…“ Oder: „Davon geht die Welt nicht unter, sie wird ja noch gebraucht!“ Die Menge überkommt auf einmal eine große Ruhe: „Ich schaue hinaus wie ein Gott“. Da stürzt Wasser herein! Die Stadt versank im Schnee, in Isolation. „Hören wir endlich auf, mit dem Ende zu rechnen…“ Hinter zersplitterten Masten bleibt ein Strudel von Wörtern zurück. Und die Musiker spielen die letzten Takte ihrer davonfliegenden Notenblätter. Diese Collage hinterlässt einen starken visuellen Eindruck.

Alexander Walther

 

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