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STUTTGART/ Schauspielhaus: HERBSTSONATE nach Ingmar Bergmann – ein Gewirr der Träume

22.12.2014 | Allgemein, Theater

Herbstsonate“ nach Ingmar Bergman im Schauspielhaus Stuttgart EIN GEWIRR DER RÄUME

Jan Bosse inszeniert im Schauspielhaus „Herbstsonate“ nach Ingmar Bergman am 21. Dezember 2014/STUTTGART

Unbenannt
Foto: Bettina Stoess

Hervorragende schauspielerische Leistungen sind in Jan Bosses „Herbstsonate“ nach dem Film von Ingmar Bergman zu bewundern. Eine große Drehbühne mit einem Haus ist zu sehen (Bühne: Moritz Müller), das eine Kleinfamilie beherbergt. Dieses Haus löst sich in einem labyrinthischen Gewirr der Räume auf. Alptraumhafte Sequenzen und subtile Video-Einblendungen (Meika Dresenkamp) unterstreichen den unheimlichen Charakter dieser Gegenüberstellung von Mutter und Tochter, die auch an die griechische Tragödie „Elektra“ denken lässt. Sieben Jahre hat die von Corinna Harfouch brillant gespielte erfolgreiche Pianistin Charlotte ihre Tochter Eva (fesselnd: Fritzi Haberlandt) nicht gesehen: „Hört man denn nie auf, Mutter und Tochter zu sein?“

Die beklemmende Situation in dem Haus in der norwegischen Provinz spitzt sich so konsequent zu. Das macht die bemerkenswerten Spannungsmomente dieser gelungenen Inszenierung aus, die auch in psychologischer Hinsicht und in der suggestiven Personenführung überzeugt. Eva ist dort mit Viktor (eher unauffällig: Andreas Leupold) verheiratet, dem Pfarrer dieser ländlichen Gemeinde. Mutter und Tochter wollen ihre schwierige Beziehung erneuern. Und der Pfarrer philosophiert über sein Leben mit Eva: „Ich wünschte, ich könnte ihr ein einziges Mal sagen, dass sie ohne jeden Vorbehalt geliebt wird, aber mir fehlen die richtigen Worte.“ Eva hat ihre behinderte Schwester Helena (ausdrucksstark: Natalia Belitski) bei sich aufgenommen, die Charlotte in eine Privatklinik bringen ließ. Diese Situation lässt das Stück regelrecht explodieren, denn Charlotte verlangt von ihrer Tochter zu viel: „Ich wollte immer, dass du dich um mich kümmerst, ich wollte, dass du mich in die Arme nimmst und mich tröstest.“ Eva antwortet ihr, dass sie noch ein Kind gewesen sei, fühlt sich total überfordet. Währenddessen dreht sich die Bühne wieder, man sieht den hilflosen Pfarrer, der den Frauen gleichsam ausgeliefert ist und nicht an sie herankommt. Jetzt brechen auch bei den Frauen alte Verletzungen und ungestillte Sehnsüchte auf: „Die Schäden der Mutter erbt die Tochter, für die Enttäuschungen der Mutter kommt die Tochter auf, das Unglück der Mutter muss das Unglück der Tochter werden – es ist, als sei die Nabelschnur niemals durchtrennt worden…“ Auf der anderen Seite wünscht sich Eva verzweifelt die unmittelbare Nähe ihrer Mutter: „Streichelst du mein Gesicht? Bist du jetzt bei mir? Wir werden uns nie verlassen, du und ich.“ Da entstehen dann immer wieder neue Probleme und Konflikte, aber auch großartige schauspielerische Szenen zwischen Corinna Harfouch und Fritzi Haberlandt.

Das Haus ragt mit seinen verschiedenen Räumen fast gespenstisch und grotesk in den Himmel, die Damen nehmen beim Mittagessen auf der oberen Etage Platz. Die Kostüme von Kathrin Plath wechseln sich zwischen historischen und modernen Stilrichtungen ab. Die Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Tochter auf der großen Treppe fordern von den beiden Schauspielerinnen akrobatische Leistungen, die ausgesprochen schwierig zu bewältigen sind. Jan Bosse verlangt hier von seinen Schauspielerinnen ein enormes Engagement. Am Flügel spielt Eva ihrer Mutter ein Chopin-Prelude vor – auf der großen Leinwand im Vordergrund erscheinen Mutter und Tochter in überdimensionaler Größe und reagieren sehr emotional auf die Musik. Ein starkes Bild. Die Mutter kritisiert ihre Tochter für das ihrer Meinung nach unreife Spiel, aber Viktor ergreift für seine Frau Partei und bezeichnet Evas Spiel als „gefühlvoller“. Horror-Momente und ungeheuerliche Abgründe tun sich schließlich auf, als die schwer kranke Helena die Bühne betritt und die Mutter in Panik versetzt, weil sie sich wie eine Klette an ihren Körper hängt. Die Unfähigkeit zur Liebe steht im Zentrum des Geschehens, alle leiden darunter. Viktor fühlt sich hilflos, was Jan Bosse psychologisch glaubwürdig herausstellt: „Manchmal stehe ich hier draußen und betrachte meine Frau, ohne dass sie es weiß. Es geht ihr schlecht. Die letzten Nächte waren schrecklich; sie konnte nicht schlafen…“ Er erkennt fassungslos, wie die Tochter Helena einen schweren Anfall bekommt – zusammen mit Eva vermag er sie vergeblich zu beruhigen. Ein schrecklicher Schrei gellt durch den Raum. Die Alpträume werden Realität, die Ereignisse überstürzen sich. Trotzdem hat Viktor noch Hoffnung: „Vielleicht ist alles zu spät. Trotzdem hoffe ich, dass es nicht sinnlos ist. Es gibt eine Art Gnade. Ich bin hartnäckig. Ich gebe nicht auf, selbst wenn es zu spät sein sollte. Ich glaube nicht, dass es zu spät ist. Es darf nicht zu spät sein.“ Alle kämpfen um die Existenz: „Alles geschah ja im Namen der Liebe…“ Und hier verdichten sich die Szenen in Jan Bosses Inszenierung in bemerkenswerter und vielschichtiger Weise, denn die handelnden Personen haben ihr Leben nicht mehr im Griff. Es versinkt im Chaos. Eva trauert zudem um ihren tödlich verunglückten Sohn Erik (den Rasmus Armbruster und David Vetter bei den Aufführungen abwechselnd spielen), dessen Erscheinen immer wieder ein wahres Trauma auslöst.

„Herbstsonate“ nach dem Film von Ingmar Bergman ist hier auch ein Kampf mit den Gespenstern der Vergangenheit, man spürt den unerbittlichen Geist August Strindbergs, der den Fortgang der Handlung bestimmt. Die geisterhafte Musik von Arno Kraehahn unterstreicht diese Erkenntnis. Tag, Nacht und Morgen werden von Mutter und Tochter in dieser Inszenierung als Traum erfasst, dem sie nicht entfliehen können. Zuletzt gelingt es der Mutter doch, wieder abzureisen und sich damit endgültig von ihren Töchtern zu befreien. Da erreicht Corinna Harfouchs Darstellung eine bemerkenswerte Präsenz und Wandlungsfähigkeit: „Ich begreife nicht, wie sie dieses Leben aushält? Mein Leben war im Grunde wunderschön. Aber ihr Leben? Mir geht es gut; ich bin zwar etwas melancholisch, das kann ich nicht leugnen, aber gleichzeitig fühle ich mich gut. Ich scheiss auf irgendwelche Selbsterkenntnis, ich lebe auch ohne sie.“ Selbst diese eher leisen Zwischentöne gewinnen bei der Inszenierung eine erstaunliche Intensität, es knistert zwischen den Personen unaufhörlich, man spürt wiederholt eine geradezu elektrisierende Spannung. So ist ein beklemmendes, bewegendes Kammerspiel der besonderen Art entstanden. Für die Darsteller gab es zuletzt begeisterten und verdienten Schlussapplaus des Publikums. 

 Alexander Walther

 

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