Foto: Thomas Aurin
Premiere „Die Wildente“ von Henrik Ibsen am 16.2.2019 im Schauspielhaus/STUTTGART
DIE FAMILIE ALS BÜRGERLICHES SCHLACHTFELD
In der Inszenierung von Elmar Goerden gerät die Familie als bürgerliches Schlachtfeld in den unmittelbaren Mittelpunkt des Geschehens. Die Bühne von Silvia Merlo und Ulf Stengl ist schlicht und wechselt zwischen blauen und weißen Farben. Dazwischen nimmt man auch einen Lichtkegel wahr. Zunächst verläuft die Handlung durchaus beschwingt und humorvoll. Doch es wird plötzlich immer deutlicher, dass sich hinter der gutbürgerlichen Fassade eine große Tragödie verbirgt. Lydia Kirchleitners Kostüme zeichnen die handelnden Personen in einem lässigen Outfit. Wie stark die Menschen aus den Tiefen ihrer Kindheit verletzt hervortreten, kommt bei dieser Inszenierung durchaus packend zum Vorschein, auch wenn manche Details nur oberflächlich und zu salopp erscheinen.
Der von Klaus Rodewald recht überzeugend gespielte Fotograf Hjalmar Ekdal führt hier mit Ehefrau Gina (wandlungsfähig: Anke Schubert) ein bescheidenes, aber trotzdem glückliches Leben. Während er an einer großen Erfindung arbeitet, betreiben seine Ehefrau und Hedwig das Fotoatelier. Zuweilen werden große Fotos der Familie an den Wänden sichtbar. Der ganze Stolz der Familie ist der Dachboden, der hier allerdings nicht richtig erkennbar wird. Dort leben Kaninchen und Tauben und eine angeschossene Wildente, die von Hedwig abgöttisch geliebt wird. Zuweilen kracht sogar ein Schuss, wenn der Großvater und Hjalmar auf Kaninchenjagd gehen. Als dann Gregers, der Sohn des Großhändlers und Grubenbesitzers Werle, bei ihnen als Untermieter einzieht, bekommt das Familienidyll Risse. Denn der von Reinhard Mahlberg sehr plastisch verkörperte Gregers ist ein idealistischer Wahrheitsfanatiker. Er macht Hjalmar Glauben, dass dieser in einer Scheinwelt lebt, wodurch sich seine psychischen Probleme erheblich steigern. Diesen Aspekt lässt Elmar Goerden sehr gut deutlich werden. Gregers konfrontiert seinen Jugendfreund mit der Vergangenheit von dessen Ehefrau. Er beschuldigt nämlich seinen Vater, mit Gina ein Verhältnis gehabt zu haben, was dieser durch die Verkuppelung Ginas an Hjalmar zu verdecken versuchte. Diese Wahrheit zerstört die ganze Familie Ekdal. Die Probleme familiärer Ausweglosigkeit werden bei dieser Inszenierung gekonnt auf die Spitze getrieben, auch wenn man sich manche Passagen noch drastischer vorstellen könnte.
Seelische Abhängigkeiten vermag vor allem Anne-Marie Lux als Hedwig sehr gut zu verdeutlichen. Sie wird als 14jähriges Mädchen von den Erwachsenen hin- und hergejagt und in eine ausweglose Lage getrieben. Die Natur als Ort der Freiheit ist hier nur ein Wunschtraum. Die hochdramatische Situation dieses Stückes wird nicht verschwiegen. Das Sprechen wird dabei immer wieder zur Selbstverschweigung. Gregers Werle setzt bei dieser Aufführung das Drama in Gang zwischen Figuren, die sich daran gewöhnt haben, menschliche Konflikte durch finanzielle Zuwendungen zu verdinglichen. Gregers ist in der suggestiven Darstellung von Reinhard Mahlberg durchaus ein durchtriebener Intrigant, der durch sein „akutes Rechenschaftsfieber“ eine schreckliche Situation auslöst. So erfährt man auch, dass der Hauptmann Ekdal durch den Großhändler Werle (facettenreich: Edgar M. Böhlke) in den Bankrott und ins Zuchthaus getrieben wurde. Durch ungesetzliches Geschäftsgebaren wird die Entzweiung der Kompagnons ausgelöst. Der Konsul bringt jedoch den Hauptmann ganz allein in Schuld und Verurteilung. Werle wiederum behandelt die ihn umgebenden Personen wie willenlose Marionetten, was Elmar Goerden in seiner Inszenierung nicht immer deutlich genug herausarbeitet. Doch es kommt plastisch zum Vorschein, wie eine Lebenslüge die gesellschaftlichen Verhältnisse zerstört. Ralf Dittrich als der alte Ekdal und „schiffbrüchiger Greis“ macht ebenfalls plausibel deutlich, was die verlorene Zeit hier aus den Menschen gemacht hat.
Die vier folgenden Akte führen zwischen facettenreichen Musikeinlagen von Helena Daehler (die dann auch als Helena auftritt) eindringlich vor, wie das unglückliche Ehepaar Ekdal sich mit der 14jährigen Tochter in eine wirklichkeitsvergessene, verlogene Welt geflüchtet hat. Auf Betreiben Gregers werden diese Menschen dann von ihrer Vorgeschichte eingeholt. So kommt es zur Katastrophe – zur Vertreibung aus sozialem Rang und angesehenem Beruf. Und dabei ist das Leben nicht mehr wert, gelebt zu werden. Hedwig ist schließlich das Hauptopfer der Tragödie. Sie wird ungewollt Zeuge des Gesprächs, das Hjalmar mit Gregers über ihre dunkle Herkunft hat, denn die Vaterschaft ist ungeklärt. Anne-Marie Lux lässt hier drastisch deutlich werden, wie das junge Mädchen gerade daran zerbricht. Hjalmar Ekdal stellt zwischen heftigen Wutausbrüchen fest: „Ich habe kein Kind mehr“. Und Hedwig richtet die Pistole schließlich nicht gegen die Wildente (die sie zum Beweis ihrer Opferbereitschaft auf Veranlassung Gregers töten wollte), sondern gegen sich selbst.
Elmar Goerden betont bei seiner doppelbödigen Inszenierung aber auch den Charakter der beissenden Tragikomödie. Tragische Ironie, Symbolik und doppelbödiger Dialog gehen so Hand in Hand. Wenngleich die farbige Milieuschilderung etwas zu kurz kommt und einige Figuren gestrichen wurden, gelingt es Goerden doch, drastisch aufzuzeigen, wie man den Menschen das Glück nimmt, indem man ihnen die Lebenslüge nimmt. Der Bankrott löst gleichzeitig die sozialen Existenzweisen auf. Der Vater zerreisst schließlich sogar Hedwigs Schenkungsurkunde. Gleichzeitig ist Gregers in der Darstellung von Reinhard Mahlberg stark an seine Jugend fixiert. Konsul, Hauptmann und Gregers leiden allesamt an mangelnder Selbstrealisierung. Auch bei Elmar Goerden sind die einzelnen Akte durchaus zu einer Einheit geworden. Der Teufelskreis von „geschminkten Leichen“ gipfelt letztendlich in Hedwigs Opfertod, sie wird nur noch leblos hereingetragen. Der fünfte Akt führt klar vor, wie Hedwig aus dem Opfer der Wildente in ein grausames Selbstopfer getrieben wird. Da hat vor allem Anne-Marie Lux als verzweifelte Hedwig immer wieder ihre großen Auftritte. Dazwischen betreten zuweilen Unbeteiligte die Szenerie und unterstreichen so den hintergründig-ironischen Charakter dieses Stückes (Statisterie: Balthasar Burger, Manuel Gäfgen, Annabel Hertweck, Selina Stuhler). So kam es zum Schluss zu Beifallsstürmen und zahlreichen „Bravo“-Rufen des Publikums.
Alexander Walther